Armenbekämpfung

Fast drei Millionen Kinder sind in Deutschland von Armut gefährdet. Die Einführung einer Kindergrundsicherung wäre ein erster Schritt im Kampf gegen Kinderarmut, müsste allerdings zehnmal höher sein als es die Bundesregierung vorsieht, fordert der Sozialforscher Christoph Butterwegge. Lesen Sie den gekürzten und redaktionell geänderten Beitrag von Jan-Henrik Hnida.

Herr Butterwegge, im Kampf gegen Kinderarmut hat sich die Bundesregierung darauf geeinigt, eine Kindergrundsicherung auf den Weg zu bringen. Sie soll ab 2025 verschiedene Leistungen wie Kindergeld und Kinderzuschlag ersetzen und leichter zugänglich sein.

Christoph Butterwegge: Damit wird die Kindergrundsicherung nur eine Verwaltungsreform, gerichtet auf die Automatisierung und Entbürokratisierung des Antragsverfahrens, ohne eine Verbesserung der Leistungen zu bewirken. Die von Finanzminister Lindner zugestandenen zwei Milliarden reichen dafür hinten und vorne nicht. Eigentlich müssten die Leistungen so erhöht werden, dass alle Familien mehr als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Dort liegt nämlich die Armutsrisikoschwelle der Europäischen Union. Selbst die 12 Milliarden Euro, von denen Familienministerin Lisa Paus zu Beginn ausging, sind zu wenig. Jährlich bräuchte man mehr als 20 Milliarden Euro, wenn die Ampel den Langzeitskandal der Kinderarmut eindämmen wollte.

Die SPD sitzt doch auch in der Regierung. Warum wird trotzdem eher wenig gegen soziale Missstände getan?

SPD und Grüne hatten eigentlich recht gute Beschlüsse zur Kindergrundsicherung. Jedoch besitzen arme Kinder keine einflussreiche Lobby. Es gibt Wohlfahrtsverbände und beispielsweise den Kinderschutzbund oder das Kinderhilfswerk. Wenn dann aber ein Intel-Manager kommt, wie jetzt geschehen, der zehn Milliarden Euro für eine Firmenansiedlung in Magdeburg verlangt, wird dieser Betrag zugesagt.

Im Kinderreport 2023 des Deutschen Kinderhilfswerks nannten viele Befragte folgende Gründe für Kinderarmut: zu wenig Einkommen, zu wenig politische Aufmerksamkeit, zu wenig Unterstützung für Alleinerziehende. Stimmt das?

Das waren ja vorgegebene Antworten, die nicht tief genug nach den Gründen schürfen. Natürlich gibt es zu wenig Geld in den Familien, aber die Gründe für Armut sind andere. Man muss zwischen den Ursachen und den Anlässen unterscheiden. Trennung, Scheidung der Eltern, ein schwerer Unfall mit darauffolgender Behinderung der Eltern, Tod des Alleinernährers: Das sind Anlässe für Armut.

Die eigentlichen Ursachen sind aber struktureller Art und liegen in der wachsenden Ungleichheit unserer Gesellschaft begründet. Zu den politischen Maßnahmen, die sie verschärft haben, gehört die Deregulierung des Arbeitsmarktes samt liberalisierter Leiharbeit, der Lockerung des Kündigungsschutzes, der Einführung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Erleichterung von Werk- und Honorarverträgen. All das hat zum größten Niedriglohnsektor Europas geführt, zu dem in Deutschland bis zu 25 Prozent aller Beschäftigten gehören.

Können Sie weitere Beispiele nennen?

Transferleistungen wurden beschnitten. Bis 2005 gab es für Langzeitarbeitslose die Arbeitslosenhilfe, dann kam Hartz IV – und der Sozialstaat wurde somit abgebaut. Denn eine Lohnersatzleistung ist einfach so weggefallen. Früher hat zum Beispiel ein arbeitsloser Diplom-Ingenieur mit seiner Familie von Arbeitslosenhilfe gelebt, die 57 Prozent seines letzten Netto-Gehalts betrug. Mit Hartz IV waren es nur noch 331 Euro in Ostdeutschland und 345 Euro in Westdeutschland, plus Miete und Heizkosten. Heute sind es 502 Euro.1 Dass die Kinderarmut stark anstieg, war damit vorprogrammiert.

Kinderarmut ist nämlich immer auch Elternarmut.

Eine Krise löst seit Jahren die andere ab. Steigt damit auch für viele Menschen das Armutsrisiko?

Das sind Spaltpilze für die Gesellschaft, weil dadurch die Ungleichheit noch verstärkt wird. Die Menschen sind von der Corona-Pandemie, der Energie-Krise oder den steigenden Lebensmittelpreisen unterschiedlich stark betroffen. Familien mit vielen Kindern trifft das besonders hart. Reiche mit Vermögen wenig bis gar nicht – der Goldpreis hat einen Höchststand erreicht, Aktienkurse erreichen wieder Rekordstände und Luxusimmobilien sind im Wert auch stark gestiegen. Aber diejenigen, die den Cent vorher schon zweimal umdrehen mussten, müssen ihn jetzt drei- oder viermal umdrehen. Tafeln, Schuldnerberatungsstellen und Bahnhofsmissionen sind überlaufen.

Armut ist aber mehr, als wenig Geld zu haben. Für sehr problematisch halte ich den Umgang mit Armut. Sie wird oft als selbstverschuldet dargestellt. Wer sich nicht anstrengt, der wird eben mit Armut bestraft, heißt es. In unserer vom Neoliberalismus geprägten Leistungsgesellschaft nimmt man einfach hin, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Wer sich anstrengt, wird mit Wohlstand belohnt, wer faul ist, wird mit Armut bestraft. Das ist ein Ammenmärchen.

Profitiert die AfD von der Misere in der Sozialpolitik?

Leider. Arme Menschen gehen häufig gar nicht mehr wählen, da sie das Gefühl haben, dass die etablierten Parteien ihre Interessen nicht berücksichtigen. Die meisten AfD-Wähler stammen aus der Mittelschicht, in der heute wieder die Angst vor dem sozialen Abstieg um sich greift. Die NSDAP haben in der Weltwirtschaftskrise 1929/32 auch nicht Arbeiter gewählt, sondern Angehörige der Mittelschicht. Menschen, die Abstiegsängste haben, weil ihnen eingeredet wird, sie könnten demnächst ihr Haus wegen steigender Heizungskosten verlieren, büßen das Vertrauen in die Demokratie ein und wählen dann rechtsextreme Parteien. Hiervon profitiert jetzt die AfD. Dazu kommt noch, dass die Ampelkoalition in Fragen der sozialen Sicherung zerstritten ist.

Man könnte Ihrer Ansicht nach den derzeitigen Höhenflug der AfD beenden, indem man Armut bekämpft und eine solide Sozialpolitik macht?

Ja, der Überzeugung bin ich. Ein von Kanzler Scholz verfolgtes Ziel ist die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das erreicht man nur, indem man die Ungleichheit verringert und den Armen unter die Arme greift. Sofort nach Beginn der Corona-Pandemie legte der Bund den Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro auf. Damit wurden TUI, Lufthansa oder Galeria Karstadt Kaufhof gestützt. Erst 14 Monate später hat man Hartz-IV-Beziehern eine Einmalzahlung von sage und schreibe 150 Euro zukommen lassen. Wenn die Menschen sehen, dass Konzerne und ihre milliardenschweren Eigentümer viel Geld von der Regierung bekommen, während sie selbst am Limit leben, wundert es nicht, wenn sich manche von den etablierten Parteien abwenden.

Was hilft ganz konkret gegen die Armut von Familien?

Die vier Gs: Der Gesetzliche Mindestlohn muss drastisch erhöht werden, um mit den steigenden Preisen mithalten zu können. Wir brauchen eine Grundsicherung, die ihren Namen verdient, etwa mit deutlich höheren Beträgen in der Kindergrundsicherung. Drittens muss die Ganztagsbetreuung verbessert werden, beispielsweise durch kostenloses Mittagessen. Und wir brauchen flächendeckend Gemeinschaftsschulen, sodass alle Kinder bis zur zehnten Klasse gemeinsam unterrichtet werden.

1ungefähr 1.200 Euro, wenn es die Arbeitslosenhilfe noch gäbe.

image_printDrucken