Abgehängte Stadtviertel

Der renommierte Soziologe Professor Butterwegge hat 2017 für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert, er ist einer der bekanntesten Armutsforscher Deutschlands. Gerade hat der 70-Jährige sein neuestes Buchmanuskript („Kinder der Ungleichheit“) beendet. Lesen Sie den gekürzten und redaktionell geänderten Beitrag von Georg Ismar, dem Tagesspiegel entnommen.

Seit einigen Tagen hat auch die Bundespolitik dieses Themas, wenn auch unzureichend, angenommen: Zum einen das weit höhere Corona-Risiko in ärmeren und migrantisch geprägten Stadtteilen und noch tiefere Gräben durch die Pandemie. Und zum anderen rückt das Thema des verstärkten Impfens z.B. in Stadtteilen wie Köln in den Mittelpunkt. 

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und CDU-Chef Armin Laschet hat nun einer Bitte von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker stattgegeben, dass der Impfstoff ab sofort in benachteiligten Stadtteilen stärker, unter Aufhebung der bisherigen Reihenfolge, eingesetzt werden darf. 

„Wenn in einer Stadt Viertel, in denen Menschen in beengten Wohnverhältnissen leben, zu Hotspots werden, während andere Stadtteile coronafrei sind, müssen wir handeln“, betont Laschet. Ein Problem ist jedoch eine Impfskepsis bei vielen Einwohnern hier, im Rathaus wird auch Stimmungsmache türkischer Medien gegen die eingesetzten Impfstoffe kritisiert. In der Bundesregierung wird dies auch als Problem gesehen, vor allem bei Teilen der Russlanddeutschen und bei Migranten aus der Türkei und arabischen Ländern sieht man bisher eine Zurückhaltung. Letztlich ist es die von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beschworene Gemeinschaftsaufgabe, um die Pandemie zu besiegen, und das geht nur mit einer ausreichend großen Herdenimmunität.

 Intensivmediziner für mobile Impfteams

Intensivmediziner begrüßen den Einsatz mobiler Impfteams in sozialen Brennpunkten. „Auf den Intensivstationen liegen überdurchschnittlich viele Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, Menschen mit Migrationshintergrund und sozial Benachteiligte“, sagte der wissenschaftliche Leiter des Intensivbettenregisters (Divi) , Christian Karagiannidis, der „Rheinischen Post“. Die Stadt Köln impft nun seit einigen Tagen verstärkt und ohne feste Priorisierung in Stadtteilen wie Chorweiler – und lange Warteschlangen zeigen, dass das Angebot angenommen wird.

„Die Impfreihenfolge aufzuheben ist im Grundsatz falsch“, meint der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Aber in dem Fall könne das sinnvoll sein. Weil dies die Gesamtmenge an Impfstoff, die dort ankommt, erhöhe.

 „Jahrzehntelang wurde gezündelt“

Armutsforscher Butterwegge vermisst aber die Debatte dahinter. Egal ob Köln oder Berlin, sagt er: „Städtebaulich ist das ja eine Katastrophe. Da sind Leute, die haben große Villengrundstücke, so wie Jens Spahn in Dahlem. Und auf der anderen Seite ballen sich die Leute immer mehr in sozial abgehängten Hochhaus-Stadtteilen. Dass sie jetzt mit mobilen Impfteams den Brand löschen wollen, sei ja zur Rettung von Leben richtig. „Aber der Fehler ist doch: Man hätte nicht jahrzehntelang zündeln dürfen.“

Die Pest im Mittelalter habe eher für mehr Gleichheit gesorgt, sagt Butterwegge. „Diese Pandemie schafft mehr Ungleichheit. Und zwar aufgrund der Arbeits- und Wohnbedingungen der Menschen.“ Das hätten die Massenausbrüche in der Fleischindustrie gezeigt. „Und mehr schwere Verläufe haben die dann auch noch, weil sie sozial benachteiligt sind, weil sie Vorerkrankungen haben wie Asthma oder Diabetes.“

Butterwegge kritisiert, es gebe jetzt für Hartz-IV Empfänger eine Einmalzahlung von 150 Euro. Aber das reiche nicht: „Die Tafeln waren mal geschlossen, Desinfektionsmittel mussten gekauft werden, Masken mussten zeitweise gekauft werden.“ Keiner habe so richtig an die Hartz-IV-Bezieher gedacht, die in den Vierteln wohnen, wo die Hochhäuser mit engen Aufzügen ihre Infektionsgefahr erheblich erhöhen. „Aber an die Lufthansa und an TUI schon. Und an Galeria Karstadt-Kaufhof auch.“

Corona verschärft drei Schieflagen gefährlich

Es gebe im Prinzip drei Schieflagen, die sich verschärfen: Erstens: Die gesundheitliche, zumal viele hier keinen Hausarzt haben, der sie medizinisch versorgen kann. Zweitens: Die ökonomische durch schlecht bezahlte Jobs, die sich zudem nicht in das Homeoffice verlagern lassen. Und dann drittens: die soziale, dass durch die Folgen der Krise am Ende wieder bei den Ärmsten allein gelassen werden.

„Man schickt jetzt die Feuerwehr in diese Stadtviertel wie bei Ihnen Marzahn-Hellersdorf und hier nach Köln-Chorweiler. Aber die eigentlichen Ursachen geraten überhaupt nicht im Blickpunkt“, kritisiert Butterwegge. „Man hätte nämlich nicht die Spaltung der Städte so vorantreiben dürfen, sondern dafür sorgen müssen, dass der soziale Wohnungsbau nicht völlig gegen die Wand fährt und dass Stadtviertel durch eine vernünftige Stadtentwicklungspolitik nicht so abgehängt werden.“

Die Stadt Köln setzt auf gezieltes Durchimpfen

Harald Rau, Gesundheits- und Sozialdezernent der Stadt Köln, fürchtet auch eine zunehmende soziale Spaltung, aber als erstes sei es wichtig, jetzt schnell dort die Corona-Lage in den Griff zu bekommen. „Wenn wir Stadtteile mit besonders starkem Infektionsgeschehen haben, dann ergreift das von dort aus natürlich auch die gesamte Stadt.“

Es sei ein 1,7 Millionen-Euro-Programm aufgelegt worden, um mit örtlichen Organisationen die Ansprache über Coronaregeln und die Impfkampagne zu verbessern, auch Moscheevereine versucht man einzubinden. Mit Informationen in mindestens sieben Sprachen. Impfen könne man theoretisch auch in Bürgerhäusern, Bussen oder Zelten. „Also im Prinzip ist da alles denkbar“, sagt Rau.

Was kommt nach dem Impfen?

Professor Butterwegge fürchtet, dass nach dem Durchimpfen nichts besser wird. „Nur impfen reicht nicht,“ da die Wohnungleichheit zwischen den den Stadtteilen und beengte Wohnverhältnisse zunehmen und die Mieten unverhältnismäßig steigen. „Im Grunde ist den Investoren das Bauen ohne Vorgaben überlassen worden“.

Butterwegge sieht Wien als Vorbild. Mehr als die Hälfte der Mietwohnungen müssten der Stadt gehören oder Genossenschaften, öffentlich gefördert sein. „Wir haben wie in den USA auch in Deutschland mehr und mehr ein Auseinanderfallen der Städte. Ich nenne das eine Amerikanisierung der Stadtentwicklung.“

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