Genderblödsinn

Hamburg/Wien. Der Schriftsteller Matthias Politycki gehört zu den bekannten zeitgenössischen Autoren im Land. Seine Bücher wie „Weiberroman“, „In 180 Tagen um die Welt“ oder „Samarkand Samarkand“ wurden in viele Sprachen übersetzt. Aktuell beklagt er eine verkümmernde Diskussionskultur, die Identitätspolitik der Linken und das Gendern der Sprache. Lesen Sie das bemerkenswerte Interview, geführt von Matthias Iken.

Hamburger Abendblatt: Herr Politycki, halten Sie Deutschland nicht mehr aus?

Matthias Politycki: In den letzten Jahren fiel es mir jedenfalls zunehmend schwerer. Auch ich hatte die Überlegungen zur politischen Korrektheit anfangs begrüßt, weil ich sie für emanzipatorisch hielt. Was nun jedoch unter dem Begriff “Wokeness” unseren gesellschaftlichen Diskurs dominiert, ist nichts weniger als Pervertierung emanzipatorischen, also linken Denkens. Identitätspolitik fordert Vielfalt nur pro forma ein, verringert sie aber in Wirklichkeit, auch im sprachlichen Ausdruck. Hier maßt sich eine elitäre Minderheit an, die Welt nach ihrem Bilde neu zu erschaffen.

War ihr Text ein wütender Aufschrei, eine Warnung oder eine Abrechnung?

Politycki: Eher ein erstauntes Räsonieren darüber, wie bereitwillig Intellektuelle Terrain freigeben und damit ihre Würde verlieren. In den Jahren vor der Pandemie war ich oft fort aus Deutschland, nicht selten monatelang. Während des Lockdowns habe ich die Polarisierung unseres öffentlichen Gesprächs zum ersten Mal nonstop und ohne Distanz verfolgt. Manchmal wollte ich mir in den Arm kneifen: Ist es Satire? Aber es war immer alles ganz ernst gemeint.

Wie fallen die Reaktionen aus?

Politycki: Ich bekomme unglaublich viele Mails, die mir den Rücken stärken, vor allem von Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern, die ähnliches erlebt haben. Jeder hat sicher seine Gründe, warum er öffentlich schweigt. Auch ich habe lang gezögert: Es ist ja die eigene Peergroup, die man gegen sich aufbringt! Ich bin selber ein Linker, wenngleich keiner, der dem Zeitgeist verpflichtet ist. Als klassischer Linker übe ich Kritik an meinem linken Milieu. Trotzdem möchte ich meine Freunde behalten!

Was versprechen Sie sich denn von Ihrer Attacke?

Politycki: Mein Artikel ist keine Attacke, sondern Einladung zum Gespräch – auf dass wir den Diskurs gemeinsam von den Rändern zurückholen in die Mitte der Gesellschaft. Wir alle haben jede Menge zu verlieren, auch in der Literatur geht es bereits ans Eingemachte. Es geht an die Texte selbst. Es geht an den Kanon, es geht an das, was wir künftig in welcher Wortwahl und Grammatik noch schreiben dürfen und wer es aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seiner sexuellen Orientierung nicht mehr darf. Ich sehe die Freiheit der Phantasie, die Freiheit des Gedankens und der Sprache tatsächlich bedroht – und eine Pressemeldung des internationalen PEN sah es unlängst auch so.

Wir leben doch in einer freien Gesellschaft. Woher rührt die Angst, diese Freiheit zu nutzen?

Politycki: Wir riskieren mit jeder öffentlichen Äußerung, dass jemand einen Halbsatz davon aufschnappt, ihn auf seine Weise versteht oder sogar gezielt missversteht und über die Sozialen Medien verbreitet. Es werden Gedanken aus dem Zusammenhang gelöst, damit sie knallen. Damit macht man Klicks, Quote, Auflage. Aber mit solch zuspitzender Verkürzung tut man dem, der es gesagt hat, unrecht. Leute werden erst durchs mediale Dorf getrieben und am Ende geschlachtet für eine Sache, die sie so eigentlich gar nicht gesagt haben. Das bringt Menschen zum Schweigen, und es spaltet.

Woran liegt denn das? Wir konnten früher streiten wie die Kesselflicker und danach ein Bier miteinander trinken.

Politycki: Wir Älteren sind Erben der Achtundsechziger: Wir sind dazu erzogen worden, alles und jeden kritisch zu hinterfragen – und dann die Sache auszudiskutieren. These, Antithese und, idealerweise, Synthese. Und genau dazu, zur Synthese oder dem Aushalten der Widersprüche, scheinen viele der jüngeren Generationen nicht mehr bereit zu sein. Aber auch wir sind damals sehr streng mit unseren Eltern ins Gericht gegangen. Möglicherweise erleben wir gerade eine Art neues “68”. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre heute 20 und mein 50-jähriger Vater will seit meiner Geburt mein bester Freund sein und trägt noch immer die lässigere Jeans als ich – ich glaube, ich ginge auch auf die Barrikaden. Irgendwo muss man sich ja auch abgrenzen, um etwas Eigenes zu werden – mit Papa aufs Popkonzert gehen, na gut, dann aber wenigstens umso heftiger gegen alte weiße Männer im allgemeinen zu Felde ziehen. Und dies übrigens mit einem raffinierten Framing, das die neuen Meinungsführer in ihren Thinktanks entwickelt haben. All die Begriffe, mit denen wir neuerdings beschallt werden, sind positiv besetzt: Wir sind bunt, wir sind nachhaltig, wir sind inklusiv, wir sind links, wir sind die Guten. Wer würde da nicht dabeisein wollen?

Wir sind gender-„sensibel“ oder gender-„gerecht“…

Politycki: Allerdings sollten wir uns all diese Wörter genauer ansehen: Waren wir früher denn unsensibel? Ungerecht? Und gar schwarz-weiß? War die intellektuelle Welt, wie sie vor der Spaltung unsrer Gesellschaft herrschte, weniger bunt als die Regenbogenfahne? Oder nehmen wir das Wort “Zivilgesellschaft”, das an die Stelle des “mündigen Bürgers” getreten ist. Was heißt das denn? Es heißt in Wirklichkeit: Da hat eine Gruppe Menschen den Diskurs besetzt und ist auch gleich zur Tat geschritten; im Nachhinein, quasi als Rechtfertigung, deklariert sie sich als “die Zivilgesellschaft”. Dabei hatte sie für ihr Handeln gar kein demokratisches Mandat, ihre vermeintlich gute Absicht wird ja längst nicht von allen geteilt. Das vorgeschobene „zivil“ nimmt uns jedoch sofort für sie ein, ehe wir über die Sache selbst nachgedacht haben, schließlich wollen wir nicht zu den Unzivilisierten gehören, zu den Barbaren. Inzwischen werden fast alle Lebensbereiche von einer woken Terminologie besetzt und dadurch neu strukturiert. Bei allem, was wir tun oder nicht tun, sagen oder nicht sagen, zeigen wir eine ganze Weltanschauung. Ich will aber nicht in einer Schublade stecken. Ich will mal die eine Schublade aufziehen, mal die andere. So teile ich einige Inhalte mit der woken Bewegung; vieles, was Sprache betrifft, jedoch mit “Konservativen”. Und genau dieses Sich-nicht-Festlegen auf ein weltanschauliches Lager ist heute das Allergefährlichste, da reicht ein falsches Wort…

…und Sie sind schon wieder ein alter weißer Mann.

Politycki: … und Sie sind sozial tot. Ist es nicht ein Grundrecht, sich mal zu irren, mal ein falsches Wort zu verwenden? Und ist es außerhalb der woken Blase überhaupt falsch? Grenzt der neue Sprachpurismus nicht all die aus, die nicht so raffiniert mit den neuen Begriffen umgehen können? Er nimmt ihnen die faire Chance, ihre Position überhaupt zu formulieren. Ist das gerecht? So macht man sie von jemandem, der eine andere Meinung vertritt, zu Gegnern, dann zu Feinden. Demokratie heißt nicht zuletzt, Differenzen auszuhalten – Differenzen von Meinungen wie auch Differenzen der Sprache, in der sie formuliert sind – das sind wir drauf und dran zu verlernen. Für mich war der politische Gegner damals die CSU, wir haben Strauß bekämpft. Aber wir haben trotzdem mit denen Fußball gespielt.

Vielleicht, weil man immer hoffte, sie überzeugen zu können. Heute schiebt man den Gegner lieber ins Aus.

Politycki: Wir haben unsere Gesprächskultur verloren und verschrecken gerade die sensiblen, die intellektuell differenzierten und damit wichtigsten Gesprächspartner. Auch diese machen eine Gesellschaft bunt, all die Denker zwischen den sattsam bekannten Positionen, die Schrägen, die auch mal was raushauen, was noch nicht total abgehangen ist. Wenn bald jenseits des öffentlichen Gesprächs zu jedem Thema eine verborgene zweite Wahrheit gehandelt wird, wird die Gesellschaft zerbrechen.

Sie haben selbst in Ihrem Artikel scharf geschossen: „Jakobinischer Eifer der Sprachreiniger“, „Selbstzerstörung unserer intellektuellen Republik“, „systematisch betriebene Umerziehung“. Das ist scharfer Tobak.

Politycki: Aber begründeter Tobak.

Systematisch betriebene Umerziehung?

Politycki: Heutzutage existieren jede Menge Haltungsketten. In dem Moment, wo ich mich als Anhänger einer bunten Gesellschaft zu erkennen gebe, weiß mein Gegenüber, dass ich höchstwahrscheinlich auch Veganer bin, SUVs ablehne, Fridays for Future unterstütze undundund. Uns geht die Fähigkeit verloren, Widersprüche in uns selbst und erst recht mit anderen auszuhalten. Unsere Positionen sind plakativ geworden, den Mangel an Differenziertheit machen wir durch moralische Arroganz und Belehrung wett. Früher reichte es uns, uns im Recht zu wissen. Heute wollen wir den anderen als schlechten Menschen enttarnen. Beschimpfungen kenne ich auch von früher, aber dieses Besserwisserische, Überhebliche, Hochfahrende bei jeder Gelegenheit ist neu. Das erinnert mich an die Jakobiner.

Das ging schlecht aus. Auch Donald Trump hat die Wahl gegen Hillary Clinton wohl nur gewinnen können, weil Clintons Verachtung für die „Bedauernswerten“ die Wähler geradezu in die Arme Trumps getrieben hat.

Politycki: Auch deswegen glaube ich, Mäßigung täte uns gut. Wir müssen die Kunst des Zuhörens wieder neu erlernen. Und auch die des wilden Denkens, das sich nicht an Haltungsvorgaben von Links und schon gar nicht von Rechts klammert.

Sie kritisieren das Gender-Deutsch. Obwohl alle Umfragen zeigen, dass Zweidrittel bis Dreiviertel der Deutschen dagegen sind, wird es immer stärker…

Politycki: Vor allem anderen ist es zunächst mal falsches Deutsch, sofern man der maßgeblichen Institution Gehör schenkt, dem Rat für deutsche Rechtschreibung. Welcher Schriftsteller könnte seine Bücher in falschem Deutsch schreiben! Weil ich es im Corona-Alltag ständig hören musste, hatte ich überhaupt keine Lust mehr zu schreiben. Der Vormarsch des Gender-Deutschs wird von Unis, Behörden und Medien betrieben, von den Gatekeepern, die es dem Zeitgeist zuliebe einfach anordnen oder umsetzen. Und unterschätzen wir auch den Hang der Deutschen zum Mitläufertum nicht.

Hamburgs Zweite Bürgermeisterin hat gesagt, es gehe beim Gendern um Freiheit: „Es muss im 21. Jahrhundert eine Normalität sein, dass wir in einer diversen und bunten Gesellschaft auch eine Sprache verwenden, die keinen diskriminiert.“ Wo ist also das Problem?

Politycki: Mit der diversen und bunten Gesellschaft kann man heute alles begründen, besser gesagt: framen. Die deutsche Sprache ist auf eine wunderbare Weise abstrakt und genau deshalb extrem integrativ, nicht zuletzt deswegen war sie über lange Zeit die Sprache der Philosophen. Was früher ganz selbstverständlich in einem Sammelbegriff enthalten war, wird nun durch Verwendung von weiblicher oder männlicher Endung vom übergreifenden Ganzen ausgegrenzt. Ich fürchte, die Sprache diskriminiert damit viel mehr als früher. Das lateinische “discriminare” heißt ja “trennen”, “absondern”. Frau Fegebank vertritt mit ihrem Statement politische Interessen, die Interessen der Sprache und ihrer Sprecher vertritt sie nicht. Diese bestehen gerade darin, grammatikalische Struktur und Vokabular von ideologischer Maßregelung frei zu halten, damit auch weiterhin komplexe Gedanken formuliert werden können. Nur wenn uns allen, also nicht nur der sogenannten “Zivilgesellschaft”, sondern der gesamten Gesellschaft, ein weltanschaulich neutrales Vokabular zur Verfügung steht, lassen sich politische Inhalte so verhandeln, dass die Gegenseite nicht von vornherein in Abwehrhaltung geht. Sprache darf niemanden ausschließen, sie muss demokratisch bleiben.

Lässt sich der Zug zum Gendern überhaupt aufhalten? Ist die Schlacht nicht längst geschlagen?

Politycki: Hier stehe ich und kann nicht anders. Ich liebe die deutsche Sprache, wie sie über Jahrhunderte gewachsen ist, ich liebe sie mit all ihren Abgründen und Unvollkommenheiten, sie ist Zeugnis unsrer Kultur. Und damit – noch – unsrer Freiheit.

Als die neue Rechtschreibung kommen sollte, haben sich viele Medien und Politiker verweigert. Heute ist es eher andersherum: Viele Medien würden lieber heute als morgen gendern, unterlassen es aber aus Angst vor dem Zorn der Leser. Und der Leserinnen.

Politycki: Dann sind wir froh, dass wir Leser und Leserinnen haben! Ob sich Gendern jemals so durchsetzt, dass man es als korrektes und flüssig zu sprechendes Deutsch empfinden wird, bezweifle ich. Aber selbst wenn es so käme, würde der Satz von Platon gelten. Er hat einmal gesagt, wenn man in Athen allen Hunden ein Bein abschlüge, bliebe der Hund von seiner Idee her trotzdem ein Vierbeiner.

Ihr Essay beginnt ja mit dem zartbitteren Satz: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen so gründlich zu betreiben, bis alle schlechte Laune haben.“ Nun können wir nicht alle nach Wien ziehen. Wie können wir hier wieder bessere Laune bekommen?

Politycki: Wir sollten uns durch die neuen Sprachregularien nicht davon abhalten lassen, unsre Meinung zu sagen und mit anderen im Gespräch zu bleiben. Im Übrigen: Meine Frau hat ihre berufliche Basis weiterhin in Hamburg, damit bleibt auch mein “Lebensmittelpunkt” – so nennt es das Finanzamt – in Hamburg. Ich werde ab und an von Wien hierher kommen und hoffentlich ein bisschen von der Entspanntheit mitbringen, die man im Wiener Alltag kultiviert.

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