Zeitenwende

In seinem Buch „Deutschland im Krisenmodus“. vergleicht der Soziologe Prof. Butterwegge die altuellen Krisen mit früheren Krisenzeiten, wie etwa der Ölpreiskrise in den 1970er-Jahren oder dem wirtschaftlichen Umbruch mit Massenarbeitslosigkeit nach 1990 in Ostdeutschland. Seine Bewertungen beruhen auf Tatsachen und sind daher begründet. Das Interview ist „DerWesten“ entnommen.

Sie vergleichen die damaligen mit den heutigen Krisen. Worin unterscheiden Sie sich?

Butterwegge: „Zum einen handelt es sich nicht nur um eine Wirtschaftskrise. Zum anderen verzeichnen wir heute eine Häufung der Krisen, die sich auch miteinander verschränken. So ging die Covid-19-Pandemie, kaum dass sie vorüber war, in die Folgen des Ukraine-Krieges über. Die Inflation, die schon während der Pandemie begonnen hatte, verschärfte sich durch die Energiepreisexplosion. Hinzu kommt noch die drohende Klimakatastrophe. Da sieht man, dass es sich um eine einmalige Krisenkaskade handelt, die unsere Gesellschaft durchschüttelt.“

Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass man den Begriff „Zeitenwende“ nach Putins Überfall auf die Ukraine nicht nur auf den sicherheitspolitischen Aspekt reduzieren kann. Was kommt noch für eine „Zeitenwende“ auf uns zu?

„Absehbar ist jedenfalls, dass der Rüstungshaushalt angesichts des 2-Prozent-Ziels der NATO von jetzt knapp 52 Milliarden Euro auf rund 85 Milliarden Euro im Jahr 2028 angehoben werden muss. Allein die Anschubfinanzierung für die Kampfbrigade in Litauen soll zusätzlich über 10 Milliarden Euro kosten. Wenn man zwecks Hochrüstung auf die Bekämpfung der Armut verzichtet, was für Rüstungskonzerne wie Rheinmetall riesige Gewinne verspricht, wäre das fatal. Hierdurch würde unsere Gesellschaft noch stärker als durch die jüngsten Krisen gespalten.“

Welche Folgen prognostizieren Sie für die Gesellschaft?

„Einerseits breitet sich die Armut mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft hinein aus. Andererseits konzentriert sich das Vermögen immer stärker in wenigen Händen. Wenn man den Sozialstaat abbaut, bedeutet das für mehr Menschen, in noch größere soziale Schwierigkeiten zu geraten. Die sich verstärkende Unsicherheit und Zerrissenheit der Gesellschaft gibt wiederum Rechtspopulisten und Rechtsextremisten großen Auftrieb, weil vor allem Mittelschichtangehörige das Vertrauen in die demokratischen Parteien verlieren.“

Sie machen sich Sorgen um den sozialen Frieden, aber wenn Putins Russland in der Ukraine siegt oder andere Staaten angreift, drohen weitaus größere soziale Verwerfungen.

„Derzeit wird mit Begriffen wie ‚Kriegstüchtigkeit‘ von Boris Pistorius und anderen Politikern eine Vorkriegsstimmung erzeugt, obwohl beide Weltkriege nicht von Russland, sondern von Deutschland angezettelt worden sind. Man hatte die alte Bundesrepublik Deutschland aufgrund der NS-Vergangenheit und des preußisch-deutschen Militarismus bewußt als Zivilgesellschaft aufgebaut und zu Wohlstand gebracht, und jetzt wird das größte Aufrüstungsprogramm seit 1945 vorangetrieben und einen Veteranentag eingeführt, die man als Remilitarisierungsansätze deuten kann. Ich sehe keine militärische Bedrohungslage, die eine solche Hysterie rechtfertigen würde.

Russland keinen NATO-Staat, sondern ein Land angegriffen, das bei seiner Aufnahme in das westliche Militärbündnis das internationale Kräfteverhältnis massiv zu ungunsten Russlands verschieben würde. Deutschland ist – anders als Russland – von Verbündeten umgeben. Die Rüstungsausgaben der USA sind zehnmal so hoch wie die Russlands, und selbst die Militärausgaben der europäischen NATO-Mitglieder übersteigen noch den russischen Gesamthaushalt. Selbst wenn Russland wollte, könnte es nach seiner verlustreichen Ukraine-Invasion nicht weiter nach Westen vorstoßen.“

Sie kritisieren auch die Waffenlieferungen an die Ukraine, aber ohne die Hilfe des Westens wäre der Strom an Kriegsflüchtlingen vermutlich noch größer, weil mehr Territorium durch Putin erobert worden wäre. Das würde soziale Probleme in Deutschland, wie etwa den Wohnungsmangel, weiter verschärfen.

„Ich bin ja nicht der Meinung, dass die Ukraine ihr Staatsgebiet russischen Truppen überlassen, sondern dass sie mit Russland einen Waffenstillstand aushandeln und Friedensverhandlungen führen soll. Das ist die einzige Lösung, um dem Sterben so vieler Menschen ein Ende zu setzen, statt mit immer weitreichenderen Waffen des Westens den Krieg zu eskalieren. Im Zweifelsfall wäre es besser, Flüchtlinge zu unterstützen, als das weitere Gemetzel auf dem Schlachtfeld zu finanzieren. Das Töten muss endlich beendet werden, die Zahl der Opfer ist schon viel zu hoch.“

Sie haben über die alte Bundesrepublik Deutschland, die Bonner Republik, gesprochen. Welche Bonner Jahre sind Ihr Gegenbild zur heutigen Berliner Republik?

„Das Gegenbild sind die frühen 1970er-Jahre unter Willy Brandt, als Reformen ganz anders verstanden wurden. Reformen zu verwirklichen, hieß mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr soziale Ansprüche beispielsweise für Rentnerinnen und Rentner sowie Zurückdrängung der Armut. Die Menschen hatten insgesamt den Eindruck, dass es aufwärts ging und die Bundesregierung um sozialen Ausgleich bemüht war. Gegenwärtig ist das genaue Gegenteil der Fall. Unter dem Einfluss des Neoliberalismus ist Ungleichheit zu etwas Gutem erklärt worden. Sie soll angeblich die Menschen motivieren, mehr zu leisten und sich mehr anzustrengen.“

https://youtu.be/81KiOii3BqI

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Zeitenwende ein zweiter Verrat der SPD an der eigenen Kernklientel sei, nach der Agenda 2010. Aber ist die Regierungsbilanz seit 2021 so schlecht? In den ersten Jahren der Ampel-Legislaturperiode gab es Sprünge beim Mindestlohn, starke Rentenerhöhungen, mehr Kindergeld, eine Ausweitung beim Wohngeld und ein höheres Bürgergeld.

„Sowohl die Erhöhung des Mindestlohns wie auch das Bürgergeld waren zwar ein kleiner Schritt nach vorn, aber kürzlich hat die Koalition wieder eine Rolle rückwärts hin zu Hartz IV eingeleitet. Sparen will man ausgerechnet bei den Ärmsten, durch einen zweimonatigen Leistungsentzug gegenüber vermeintlichen Totalverweigerern, von denen es nur ganz, ganz wenige gibt. Von den neuerlichen Sanktionsmaßnahmen der Ampel getroffen werden hauptsächlich Menschen mit gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen, die aus Angst vor dem Jobcenter dessen Schreiben gar nicht mehr öffnen.

Statt die Probleme dieser Menschen zu lösen, nimmt man ihnen entgegen dem Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts das Existenzminimum. Dies ist verfassungswidrig und inhuman. Allerdings bezieht sich mein Vorwurf des Verrats an den Grundwerten der SPD nicht nur auf die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit, sondern auch auf die Außen- und Militärpolitik. Es war immer eine Grundmaxime der SPD, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu liefern. Ein jetziger Verrat wäre so ähnlich wie der 4. August 1914, an dem die SPD-Abgeordneten den Kriegskrediten im Reichstag zugestimmt und den Ersten Weltkrieg befürwortet hatten.

Mit den friedenspolitischen Grundsätzen der alten Sozialdemokratie hätte dies nichts mehr zu tun.“

Notfallversorgung

Die Bundesregierung hat den Entwurf des Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung (NotfallGesetz) bechlossen. Es ist notwendig, die Nofallversorgung zu verbessern, um auch dazu beizutragen, das Versorgungsangebot der niedergelassenen Ärzteschaft in der Akutversorgung zu nutzen und nicht gleich die Notaufnahme aufzusuchen. Lesen Sie die redaktionell geänderte Presseerklärung des GKV-SV.

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Zuwanderungsgesetz

Das Urteil des  Bundesverfassungsgerichts zum „Zuwanderungsgesetz“ der damaligen rot-grünen Koalition von 2001 ist ein Zeitdokument und ein Lehrbeispiel für kompromisslose und ideologisch begründete Machtpolitik der damaligen Opposition. Unabhängig von der bereits damals bestehenden Notwendigkeit einer gesteuerten Einwanderung war sich  das BVerfG schon damals nicht zu schade, eine parteipolitische Position zu stützen. Mit dieser verhinderten Zuwanderungsteuerung wäre gleichzeitig das Asylrecht nicht nur unbeschadet geblieben, sondern sogar gestärkt worden. Die folgenden Auszüge des Gerichtsurteils, insbesondere der Wortbeitrag von Jörg Schönbohm, sprechen für sich..

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Meinungsmache

Einst sollten Reformen die Renten finanzierbar halten. Heute bedienen sie vor allem die eigene Klientel. Das ist die Kernaussage des stellv. Chefredakteurs des Hamburger Abendblatts, der in diesem Zusammenhang feststellt, dass das „eine himmelschreiende Ungerechtigkeit“ ist. Hat er recht? Oder ist das nur Meinungsmache? Lesen Sie seine Kolumne und meine Erwiderung.

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Biedermann und die Brandstifter

Das Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“ ist etwa so alt wie das Grundgesetz. Das Stück von Max Frisch handelt von einem Bürger namens Gottlieb Biedermann, der in der Zeitung von einer Serie von Brandstiftungen liest. Er sieht die Brandstifter als Opfer, weil sie sich selbst so sehen. Die Brandstifter bei Max Frisch bejammern und bemitleiden sich nämlich als Opfer, als Abgehängte, obwohl sie das genaue Gegenteil sind. Lesen Sie den Beitrag von Heribert Prantl, Jurist und Kolumnist der SZ .

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