Zivilcourage gegen Missstände

Berlin – Was hat Vorrang: Die Information über extreme Missstände in einem Altenpflegeheim oder das Interesse der Heimleitung an der Unterdrückung dieser Information? Lesen Sie den redaktionell leicht veränderten Beitrag von Christian Bommarius, Berliner Zeitung.

Wer verdient größeren Schutz: Die Mitarbeiterin des Heims, die immer wieder und immer wieder vergeblich gegen die menschenunwürdige Behandlung der hilflosen Patienten protestiert und sich schließlich verzweifelt an die Staatsanwaltschaft wendet, oder der Betreiber des Heims, der auf die Loyalität und damit auf die Verschwiegenheit seiner Mitarbeiter vertraut?

Die Antwort fiel den deutschen Arbeitsgerichten bisher nicht schwer. Ganz überwiegend erkannten sie in der Zivilcourage des Mitarbeiters einen gravierenden Akt der Loyalitätsverweigerung, den der Arbeitgeber ohne weiteres mit Kündigung bestrafen durfte. Arbeitnehmer, die von Missständen in ihren Betrieben erfuhren, von lebensgefährlichen Schlampereien, von menschenunwürdigen Verhältnissen, durften zwar ihre Vorgesetzten informieren und in angemessener Form ihren Protest zum Ausdruck bringen, aber an die Öffentlichkeit wenden durften sie sich nicht, wenn sie nicht ihren Arbeitsplatz riskieren wollten.

Whistleblower – also Arbeitnehmer, die Missstände in Unternehmen oder Institutionen offenlegen – waren bisher in Deutschland vogelfrei.

Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Donnerstag endlich mit einem eindeutigen Urteil beendet. Er hat nicht nur die fristlose Kündigung einer mutigen Berliner Altenpflegerin für rechtwidrig erklärt, die ihren Arbeitgeber, der auf ihren vielfältigen Protest gegen die unwürdige Behandlung der Patienten nicht reagierte, wegen Betrugs angezeigt hatte. Vor allem hat er den deutschen Arbeitsgerichten und den Arbeitgebern klar gemacht, dass Zivilcourage kein Synonym für Fehlverhalten ist, sondern Ausdruck gelebter Meinungsfreiheit. Gelebte Meinungsfreiheit bedeutet nicht nur gelebte Demokratie, sie kann sogar Menschenleben retten.

Am 3. Juni 1998 entgleiste der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ auf der Bahnstrecke Hannover-Hamburg am Strecken-Kilometer 61 in der niedersächsischen Gemeinde Eschede. 101 Menschen kamen ums Leben, 88 wurden schwer verletzt. Es war das bislang schwerste Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik und aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit. Und es hätte verhindert werden können. Denn intern war vor Problemen mit den für das Unglück ursächlichen Zugrädern gewarnt worden. Aber die Öffentlichkeit hat davon erst im Prozess erfahren. Vor einem Jahr, am 24. Juli 2010, starben 21 Menschen während der Loveparade in Duisburg. Auch hier waren die Probleme, die zur Katastrophe führten, lange vorher bekannt, sie waren besprochen, vor ihnen war gewarnt, sie waren trotz aller Besprechungen und Warnungen ignoriert worden. Auch in Duisburg hat sich niemand – in berechtigter Sorge um seinen Arbeitsplatz – ein Herz gefasst und die Öffentlichkeit vor den Gefahren gewarnt.

Niemand weiß, wie viele Menschen noch leben würden, hätte sich die Zivilcourage rechtzeitig zu Wort gemeldet, hätte einer die Justiz oder die Medien gewarnt, ehe es zu spät war. Niemand weiß, wie viele Patienten in deutschen Altenpflegeheimen stundenlag in Kot und Urin sich selbst überlassen sind, hungern und dürsten, weil das spärliche, chronisch überlastete Personal keine Zeit für sie findet, weil für den Betreiber des Heims die Menschenwürde in seiner Kosten-Nutzen-Rechnung keine Rolle spielt, und weil keiner den Mund aufmacht aus Angst vor der fristlosen Kündigung. Diese Angst ist beschämend – nicht für die verängstigten Arbeitnehmer, sondern für die Arbeitsgerichte, die die Angst mit ihrer Rechtsprechung schüren.

 
Am 24. Juli 2010, starben 21 Menschen während der Loveparade in Duisburg. Die Probleme, die zur Katastrophe führten, waren lange vorher bekannt – aber niemand hat sich in berechtigter Sorge um seinen Arbeitsplatz ein Herz gefasst und die Öffentlichkeit vor den Gefahren gewarnt. Gelebte Meinungsfreiheit kann Menschenleben retten, wenn sie gesetzlich geschützt wird.

Die Berliner Altenpflegerin, die jetzt endlich in Straßburg Recht bekam, hatte sich zwar zunächst erfolgreich in erster Instanz gegen ihre fristlose Kündigung gewehrt, aber schon die nächste Instanz hatte die Entscheidung aufgehoben und die Kündigung wegen der angeblich erheblichen Verletzung der Loyalitätspflicht der Pflegerin bestätigt. Solche Entscheidungen sind nicht nur eine Katastrophe für den Betroffenen, sie gefährden auch die politische Kultur, sie haben, wie die Straßburger Richter zutreffend feststellen, „ auf andere Arbeitnehmer in der Pflegebranche eine abschreckende Wirkung und somit gesamtgesellschaftlich einen negativen Effekt“.

Nach dem Gericht in Straßburg muss jetzt der Gesetzgeber in Berlin die Initiative ergreifen. Wie in den USA und in Großbritannien müssen Whistleblower auch in Deutschland vor Kündigungen und anderen Sanktionen gesetzlich geschützt werden. Zivilcourage kann nur der Einzelne zeigen. Aber der Staat darf ihm die Unterstützung dabei nicht versagen.

Lesen Sie dazu den leicht gekürzten Beitrag von Uwe Grund, Vorsitzender des DGB-Hamburg, dem HA entnommen:

Seinen Arbeitgeber wegen schweren Fehlverhaltens bei den Behörden anzuzeigen oder gar die Medien zu informieren, gilt hierzulande als Tabubruch. Informanten werden geächtet, häufig rechtlich verfolgt. Dabei handeln sogenannte „Whistleblower“ oft im Sinne der Gemeinschaft. Sie brauchen mehr gesellschaftliche Unterstützung und vor allem auch mehr gesetzlichen Schutz.

Der illegal entsorgte Müll, das im Hafen abgelassene Abwasser, der korrupte Finanzbeamte, die nicht eingehaltenen Hygienevorschriften, fortgesetzte Tierquälerei oder anhaltende Verstöße gegen Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften: Es gibt viele Fälle, auf die Beschäftigte in einem Unternehmen aufmerksam werden können, bei denen gegen geltendes Recht verstoßen wird.

Ich sage: Wer solche Missstände aufdeckt, ist kein Anschwärzer oder Nestbeschmutzer – sondern ein mutiger Mensch, der einen Dienst für die Gesellschaft tut. Doch diesen Mut aufzubringen wird einem bislang in Deutschland sehr schwergemacht. Hier sind die politisch Verantwortlichen gefragt, den längst angekündigten und von der G20, den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern, geforderten Gesetzesinitiativen endlich Taten folgen zu lassen.

Natürlich befindet sich ein Beschäftigter, der Missstände feststellt, in einem Konflikt zwischen Loyalität und Gewissen. Und natürlich ist es richtig, allgemeine Verstöße zunächst innerhalb der Firma anzusprechen und auf Änderungen zu drängen. Gerade dafür braucht es einen gestärkten Rücken durch mehr rechtliche Sicherheit.

Leider ist es ein Irrglaube zu denken, es müsse reichen, Missstände bloß innerbetrieblich deutlich zu machen, um das Handeln dann den Vorgesetzten zu überlassen. So will es Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Wer sich ein Unternehmen als heile Welt vorstellt, in der Arbeitgeber jeden Hinweis auf Missstände aufmerksam aufnehmen, umgehend tätig werden und ihrem Mitarbeiter auch noch kräftig auf die Schulter klopfen, glaubt auch noch an den Weihnachtsmann.

 

Realität ist dagegen noch immer viel zu oft die Verfolgung der Mahner, Kritiker und Beschwerdeführer. Beispiele, wie es wirklich läuft, gibt es genug. Neben der Altenpflegerin aus Berlin, zu deren Gunsten unlängst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, gab es auch noch den Beschäftigten, der vor einigen Jahren mithalf, den „Gammelfleisch-Skandal“ aufzudecken. Dass dieser daraufhin von Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) mit der Goldenen Plakette für Zivilcourage ausgezeichnet wurde, nutzte ihm nichts – er wurde trotzdem gekündigt. Genau wie kürzlich die Berliner Altenpflegerin.

In manchen Unternehmen hat inzwischen zwar ein Umdenken eingesetzt. Das ist gut so, wir brauchen einen Kulturwandel. So haben große Betriebe externe Anwälte als Ombudsmänner eingesetzt, die der Schweigepflicht unterliegen und als Ansprechpartner und Vertrauenspersonen dienen. Doch für kleine, mittelständische Firmen ist es unrealistisch, solche unabhängigen Stellen zu schaffen.

Eine Möglichkeit wäre es, hier die jeweiligen Kammern mehr in die Verantwortung zu nehmen. Sie könnten als unabhängiger Ansprechpartner dienen.

Doch das  kann keine gesetzlichen Schutzregelungen ersetzen. Nur sie würden wirklich helfen, dass mutige Arbeitnehmer nach ihrem Schritt an die Öffentlichkeit vor Maßregelungen und den arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis zur Entlassung geschützt werden. Letztendlich wären solche Gesetze auch ein Schutz für die Unternehmer vor sich selbst. Ich setze da auf die präventive Wirkung: Denn wer weiß, dass er mit dem Vertuschen seines Handelns nicht so einfach durchkommt, unterlässt es dann vielleicht schon von vornherein.

 


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