Pflegenotstand

Das „böse Spiel mit dem Fachkräftemangel“ entlarvt Jens Berger in den NachDenkSeiten mit dem Hinweis auf  schlechte Arbeitsbedingungen im Verbund mit der teilweise vollzogenen Privatisierung im Gesundheitswesen. Diese Privatisierung könnte auch den gesetzlichen Krankenkassen und Pflegekassen drohen, sollte die fdp in der Verantwortung (!) bleiben. Der nachfolgende Beitrag ist gekürzt und inhaltlich geändert.

 Da hierzulande rund 30.000 Fachkräfte im Pflegebereich fehlen und potentielle Bewerber aus der EU einen weiten Bogen um das Niedriglohnparadies Deutschland machen, will die Bundesagentur für Arbeit nun im großen Stil Pflegekräfte aus China und den Philippinen anwerben. Doch was sich hinter dem vermeintlichen „Fachkräftemangel“ versteckt, ist  auch eine Folge der teilweisen Privatisierung des Gesundheitssystems. Der drohende Pflegenotstand wurde wissentlich herbeigeführt und ist politisch durchaus gewollt.

Inhaltsverzeichnis

Personalmangel

Nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit sind aktuell 18.000 offene Stellen in der Kranken- und Altenpflege nicht besetzt. Der Arbeitgeberverband Pflege geht sogar von aktuell 30.000 fehlenden Fachkräften aus. Wenn man bedenkt, dass seit dem Beginn der großen Privatisierungswelle im Jahre 1995 alleine in der Krankenpflege rund 50.000 Vollzeitstellen abgebaut wurden und die anfallende Arbeit nicht weniger, sondern mehr wurde, kann der jetzige „Fachkräftemangel“ kaum verwundern. Vor allem die privaten Krankenhausbetreiber haben diesen Mangel mit aller Macht herbeigeführt. Um die gesteckten Renditeziele zu erreichen, mussten die Kosten heruntergefahren werden und im Gesundheitssektor sind die Personalkosten nun einmal der behauptete Kostenfaktor, bei dem nennenswertes Sparpotential vorhanden ist, wenn die Renditeziele stimmen sollen.

Heute versorgt eine Pflegekraft rund 25% mehr Fälle als vor 15 Jahren. Eine groß angelegte Befragung des Pflegepersonals durch das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung ergab, dass 60 Prozent der Befragten angaben, dass nicht in jeder Schicht ausreichend examiniertes Personal zur Verfügung stehen würde, um die Versorgung fachlich abzusichern. 40 Prozent der Beschäftigten gaben an, ein „arbeitsgefährdendes Überstundenkontingent“ angehäuft zu haben. Die jeden Monat geleisteten Überstunden entsprechen dabei einem Äquivalent von 15.000 Vollzeitstellen. Als letzter Ausweg bleibt den überforderten Pflegekräften oft nur eine Überlastungsanzeige. Das Herrschaftsprinzip divide et impera (teile und herrsche) funktioniert jedoch vor allem in den privatisierten Häusern, in denen der Betriebsrat oft systematisch behindert und das Personal unter Druck gesetzt wird. Das systemische Versagen wird auf die Angestellten abgewälzt, der Druck auf die Mitarbeiter bis zum Maß der Unerträglichkeit gesteigert. Nicht wenige Mitarbeiter zerbrechen an diesem Druck und kündigen ihren Job.

Fachkräftemangel?

Für jüngere Menschen ist ein Job, bei dem eine hohe physische und psychische Belastung mit einem niedrigen Gehalt einhergeht, jedoch auch nicht sonderlich attraktiv. Vor allem im Süden der Republik fällt es den Krankenhausbetreibern immer schwerer, überhaupt noch geeignete Kräfte zu diesen Konditionen finden. Die eigentliche Bombe tickt jedoch bereits bundesweit. In keinem anderen Berufszweig ist der Altersdurchschnitt so hoch wie im Pflegebereich. Da sich aber nur jeder zweite Beschäftigte vorstellen kann, diesen physisch wie psychisch anspruchsvollen Job bis zum Eintritt ins Rentenalter auszuüben, wird die Branche schon bald ein Nachwuchsproblem bekommen. Da die Zahl der Ausbildungsplätze bundesweit stark rückläufig ist, dürften die Arbeitgeber schon bald Schwierigkeiten haben, die vorhandenen Stellen überhaupt noch besetzen zu können

Bezahlung unzureichend

Die Hoffnung, schlecht bezahlte Stellen mit einem miserablen Arbeitsumfeld mit ausländischen Fachkräften ausgleichen zu können, ist der irreale Vorstellung fehlgeleiteter Interessenvertreter. Denn bei den momentanen Rahmenbedingungen wird sich diese Vorstellung nicht erfüllen, und auch das ist nicht sonderlich überraschend. Schon am Beispiel der polnischen Pflegekräfte hat sich gezeigt, dass sie lieber einen besser bezahlten Job in der Schweiz, in Schweden oder in Großbritannien annehmen als ins „Niedriglohnparadies“ Deutschland zu emigrieren. In Polen herrscht derweil aufgrund der Abwanderung der Fachkräfte selbst ein akuter Mangel, der mit geringer qualifizierten Kräften aus der Ukraine ausgeglichen wird.

Niedriglohnparadies Deutschland

Wie der Arbeitgeberverband Pflege eingesteht, ist Polen da kein Einzelfall. Auch aus Tschechien, der Slowakei und Ungarn konnten deutsche Arbeitgeber nur „wenige Pflegefachkräfte“ anwerben. Und auch die erhoffte Zuwanderung von Pflegekräften aus Bulgarien, Rumänien und den jugoslawischen Nachfolgestaaten will nicht so recht in Gang kommen. Doch wen mag das ernsthaft wundern? So funktioniert nun einmal Marktwirtschaft.  Die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit startet nun Pilotprojekte in China und auf den Philippinen, um ausgebildete PflegerInnen für deutsche Krankenhäuser und Pflegeheime zu finden. Das erinnert frappierend an das Phänomen der chinesischen Gastärzte, mit dem sich die NachDenkSeiten im Herbst letzten Jahres schon beschäftigt hatten.

Doch anstatt sich zu empören und gegenzusteuern, will diese Bundesregierung nun die Perversion auf die Spitze treiben und Billigarbeitskräfte aus Fernost importieren. Noch vor wenigen Jahren hätte man dies noch zurecht für ein Schauermärchen gehalten. Wo sind wir gelandet?

Pflegefall Altenheim

Pflegekräfte insbesondere in der ambulanten Versorgung haben einen Knochenjob bei niedriger Bezahlung. Der gesundheitliche Verschleiß wegen der permanenten zeitlichen und körperlichen Überforderung führt nicht nur zu krankheitsbedingten Fehlzeiten, sondern vielfach auch zum früheren Rentenbeginn mit Rentenzahlungen, die oftmals die Grundsicherung nicht übersteigen. Das ist besonders bitter, weil es sich um einen Dienst am Nächsten handelt, der gnadenlos abgewertet wird.

 

Ja, wo sind wir gelandet? Wir sind gelandet bei der Entwertung der Arbeit, die nicht mehr zum Leben reicht, während der Profit auf Kosten der Pflegebedürftigen toleriert wird und gleichzeitig die Pflegekräfte ausgebeutet werden. Wenige Profiteure und zunehmendes Elend! Wollen wir das, während gleichzeitig reiche Steuerhinterzieher Milliarden Euro in Steueroasen bunkern?

Assistenzsysteme

Nicht ganz unabhängig davon gibt es eine absurde Diskussion über sogenannte altersgerechte Assistensysteme, die „technische Lösungen und Konzepte“ hochjubelt, welche vermeintlich Handicaps der Pflegebedürftigen ausgleichen sollen, aber vorrangig Unternehmen wie z.B. Bosch mit tatkräftiger Unterstützung der Krankenkassen ermöglichen, Produkte anzubieten, die z.T. sinnvoll sein mögen, aber wahrscheinlich überwiegend privat finanziert werden müssen. Es besteht nämlich die Gefahr eines „zweiten Gesundheitsmarktes“, dessen Angebote nicht mehr von der Solidargemeinschaft der Versicherten getragen werden sollen,  sondern von den Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen, weil die Befürworter der Privatisierung die Profiteure dieses zweiten Gesundheitsmarktes stützen, um selbst davon zu profitieren.

Auch ein Hörgerät ist ein „altersgerechtes Assistenzsystem“, muss aber bis auf eine unzureichende Pauschale, die noch die Krankenkassen zahlen, überwiegend von den Betroffenen privat bezahlt werden, auch wenn nicht jeder individuelle Wunsch nach einem „Mercedes am Ohr“ gerechtfertigt ist. Überzogene Ansprüche rechtfertigen aber nicht die Verweigerung  einer notwendigen Hilfeleistung. Im übrigen wird bei Hörgeräten, aber auch bei anderen Hilfsmitteln, die man heute „altersgerechte Assistenzsysteme“ nennt, damit argumentiert, dass es sich um eine Alterserscheinung handele, die deswegen von den Krankenkassen bis auf eine Pauschale nicht finanziert werden können. Ob diese Pauschale weiterhin gezahlt wird, ist durchaus ungewiß, weil der vermeintliche Wettbewerb und niedrige Pauschalen zu niedrigen Preisen führen sollen, die dann wie bei den Brillen privat zu finanzieren sind.

Pflegebedürftigkeit ist auch eine Alterserscheinung. Sollen deren Folgen künftig auch dem Wettbewerb ausgesetzt sein und ebenfalls überwiegend privat finanziert werden mit der Folge, dass dann der Wunsch nach Eigenständigkeit im Alter zur Illusion wird, obwohl das Gegenteil behauptet wird?

Krankenkassen

Die gesetzlichen Krankenkassen sind im Gegensatz zur PKV bei ihren Leistungen überwiegend an gesetzliche Regelungen gebunden. Sie sind nur bedingt verantwortlich für unzureichende  Regelungen, die die Interessen ihrer Versicherten nicht gewährleisten.  Sie können also keine Leistungen gewähren, die notwendig wären, aber gesetzlich nicht legitimiert sind, weil derzeit die PKV bevorzugt wird.

Die gesetzlichen Krankenkassen und ihre Verbände haben allerdings gemeinsam mit den Selbstverwaltungsorganen die Aufgabe, im Interesse ihrer Versicherten Einfluß zu nehmen, um weitere Leistungseinschränkungen und weitere Privatisierungen zu verhindern. 

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