Verhältnismäßigkeit

Die massiven Grundrechtseinschränkungen gehen einigen Juristen, aber nicht nur denen, zu weit. Eine Heidelberger Anwältin wendet sich gegen diese Einschränkungen und bekam jetzt Besuch vom Staatsschutz. Lesen Sie den redaktionell geänderten und gekürzten Beitrag von Lars Wienand, T-Online entnommen.

Polizei und Staatsanwaltschaft gehen gegen eine Rechtsanwältin vor, die die Maßnahmen wegen der Corona-Krise für stark übertrieben hält und von „Coronoia“ (wie Paranoia) und dem „größten Rechtsskandal“ in der Geschichte der Bundesrepublik spricht. Am Donnerstag hat der Internetanbieter 1&1 Ionos zudem die Internetseite der Heidelberger Juristin Beate Bahner gesperrt.

Bereits am Mittwoch kam der Staatsschutz in die Kanzlei von Bahner. Laut Staatsanwaltschaft Heidelberg wird wegen des Verdachts ermittelt, dass Bahner über ihre Seite öffentlich zu einer rechtswidrigen Tat aufgerufen hat. Sie fordert zum Widerstand gegen die Corona-Verordnungen und zu Demonstrationen auf.

Polizei bat um „vorübergehende Abschaltung“

Ein Sprecher von Ionos bestätigte t-online.de am Donnerstagabend, dass die Polizei Mannheim zur „Beseitigung der bestehenden Störung der öffentlichen Sicherheit“ um die „vorübergehende Abschaltung“ gebeten hatte. Dem sei Ionos nach Prüfung durch Juristen nachgekommen. In der Nacht zu Freitag war die Seite jedoch wieder erreichbar. Der Sprecher konnte das zunächst nicht erklären.

Was die Polizei offenbar als „Störung der öffentlichen Sicherheit“ gesehen hat, ist ein 19 Seiten langer offener Brief im DIN A4-Format. Bahner erklärt darin ihren Eilantrag an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, die Corona-Beschränkungen in dem Bundesland zu kippen. Sie ruft dort auch dazu auf, Demonstrationen anzumelden. Die Corona-Verordnungen seien „offensichtlich verfassungswidrig“ und „unwirksam“ und so weitgehend, dass es ein Recht zum Widerstand nach Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes gebe. Niemand müsse sich mehr an diese Verbote halten, heißt es in ihrer Erklärung.

Die Staatsanwaltschaft hatte in einer Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen zu Zeiten der COVID-19-Pandemie einen Straftatbestand erfüllen kann. Es stelle zumindest eine Ordnungswidrigkeit dar. Die Teilnahme an solchen Veranstaltungen habe zu unterbleiben.

Eilantrag: Regeln kippen, Demos ermöglichen

Inzwischen will Bahner per Eilantrag ans Bundesverfassungsgericht erreichen, dass die Corona-Regeln in allen Bundesländern bis zur Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug gesetzt werden. Sie vergleicht etwa die Abschottung alter und kranker Menschen mit der „ungeheuerlichen Verfolgung und Ermordung der Juden und weiterer Bevölkerungsgruppen im Dritten Reich“. Große Erfolgsaussichten dürfte ihr Eilantrag nicht haben. Das Gericht hat bereits am Mittwoch einen Antrag gegen die bayerischen Regeln verworfen.

Bundesverfassungsgericht hat Antrag als unzulässig zurückgewiesen.1

Zu Begründung hieß es vom Gericht: „Die Gefahren für Leib und Leben wiegen hier schwerer als die Einschränkungen der persönlichen Freiheit.“ Nach Ansicht der Richter droht mehr Schaden, wenn die – befristet geltenden – Regeln aufgehoben werden vor einer Entscheidung, ob sie verfassungswidrig sind.

Juristin Bahner reagierte am Donnerstagabend auf die Entwicklungen: „Niemand darf uns in einem Rechtsstaat Versammlungen und Demonstrationen verbieten!“ Sie beantragt beim Bundesverfassungsgericht auch, dass Demonstrationen gegen die Corona-Regeln nicht verboten werden dürfen. Darüber informierte sie per E-Mail und bat um Weiterleitung.

Jura-Professor: Sperrung ist „Sauerei“

Der Berliner Rechtsanwalt und Jura-Professor Niko Härting sieht in der Sperrung der Seite eine „völlige Überschreitung aller Befugnisse, die die Polizei hat. Es ist eine Sauerei.“ Härting ist nicht der Meinung Bahners, dass vom Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 Gebrauch zu machen sei.

Das Widerstandsrecht sei aber für einen Notstand wie in der derzeitigen Situation gedacht. „Ich sehe in der Erklärung eine zulässige Meinungsäußerung, und ich mache mir Sorgen um unseren Rechtsstaat, weil er dafür da ist, auch abweichende, übertriebene und hysterische Meinungen auszuhalten.“

Eine breite Debatte auch mit kritischen Stimmen um das Ausmaß der Grundrechtseinschränkungen sei nötig. „Unter Juristen gibt es sehr viele Stimmen, die ein Problem damit haben, wie etwa Freizügigkeit oder Religionsfreiheit in der Corona-Krise aufgegeben worden sind.“

Im konkreten Fall des Demonstrationsaufrufs müsse man auch die Gefahr einschätzen, die davon ausgehe, so Härting: Wenn einige Hundert Menschen zusammenkommen sollten, führe das sicher nicht zur Überlastung des Gesundheitswesens, so Härting. „Die Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut und wichtiges Grundrecht, und es wird sich später am Bundesverfassungsgericht herausstellen, ob es rechtmäßig außer Kraft gesetzt ist. Ich zweifele daran.“ Er hätte sich Staatsanwälte gewünscht, die bei dem Verfahren nicht mitmachen.

1  Corona Ablehnung Bundesverfassungsgericht

Nachrichtlich:

30. März 2020, „Welt“

Erst wenn sich die Zahl der Corona-Infizierten nur noch alle 10 Tage verdoppelt, will Bundeskanzelerin Angela Merkel über die Lockerung der Einschränkungen nachdenken.

11. April 2020, „Die Nachrichten“

Bundeskanzlerin Merkel hat sich dafür ausgesprochen, eine Verdopplungszeit von 14 Tagen anzustreben, ehe über eine Lockerung der Beschränkungen im öffentlichen Leben gesprochen (!) werden kann.

11. April 2020, „ntv“

Tatsächlich liegt die Verdopplungszeit in Deutschland zur Zeit bei 20,1 Tagen. Darüber hinaus ist die Zahl der Genesungen erstmals höher als die Zahl der Infektionen.

12.April 2020

Das Verwaltungsgericht Schwein hat ein dortiges Versammlungsverbot aufgehoben. Die dort beantragte Demonstration kann unter Auflagen stattfinden. Das Verwaltungsgericht hat bei der Abwägung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit und des Schutzes von Leib und Leben verneint, dass der Gesundheitsschutz nur mit einem Versammlungsverbot gewährleistet werden kann. Ein richtiges und wichtiges Urteil eines Verwaltungsgerichtes zur rechten Zeit.

Kommentar

Worüber müssen wir reden? Wir müssen über das Ende der befristeten Grundrechtseinschränkungen reden, das nach den vorliegenden Daten und dem Urteil des  Verwaltungsgerichtes Schwerin am 20.April 2020 erfolgen muss und nicht grundlos und entgegen den eigenen Aussagen der Bundeskanzlerin weiter hinausgezögert werden darf, und schon gar nicht mit weiteren Befristungen, die unzulässige Kettenbefristungen wären.

Güterabwägung

Der Sturm, gemeint ist der Corona-Sturm, den Minister Spahn mit seiner profunden Kenntnis vorausgesagt hat, hat nicht stattgefunden wird nicht stattfinden. Daher bietet es sich an, bei dem Wegfall von Einschränkungen auf der Grundlage der bereits genannten Güterabwägung zwischen Versammlungen in geschlossenen Räumen und solchen außerhalb dieser Räume zu unterscheiden. Versammlungen in geschlossenen Räumen können ohne Gesundheitsrisiko stattfinden, wenn die Größe eines Raumes eine körperliche Nähe für die Dauer des Aufenthalts ausschließt oder zeitlich begrenzt ist. Ischgl ist das Beispiel dafür, dass diese Kriterien nicht existent waren mit den bekannten Folgen. Das gegenteilige Beispiel ist der kurzzeitige Einkauf in Supermärkten, in denen allenfalls eine flüchtige, aber keine körperliche Nähe erfolgt – auch ohne den Abstand von zwei Metern – und eine Versammlung erst recht nicht stattfindet. Das gilt auch für die Vielzahl der kleinen Läden, die ungerechtfertigt geschlossen sind.

Daraus ergibt sich auch, dass Veranstaltungen außerhalb geschlossener Räume auf jeden Fall stattfinden können. Ausnahmen müssen nachvollziehbar begründet sein.

Grundrechte vollständig wiederherstellen

Wir müssen auch darüber reden, dass die Bundesregierung vorschnell und überzogen gehandelt hat, weil sie sich ausschließlich auf die Expertisen des Virologen und Präsidenten des Robert-Koch-Instituts(RKI) gestützt hat, ohne andere Auffassungen anderer Disziplinen zu berücksichtigen.1, Wir müssen darüber reden, dass die Bundesregierung ihre Handlungsmöglichkeiten und damit ihre originäre Aufgabe der Gestaltung an das RKI abgegeben hat und Ängste verursacht hat, die unnötig waren und sind.

Und wir müssen darüber reden, inwieweit die Absicht besteht, Grundrechtseinschränkungen auf Dauer beizubehalten. Eine schrittweise Lockerung der Einschränkungen ist zumindest ein Indiz für den möglichen Versuch, staatliches Handeln nicht mehr uneingeschränkt auf der Grundlage der Grundrechte zu legitimieren. Eine solche Rechtfertigung  kann auch mit den Regelungen des Infektionsschutzgesetzes geschehen, die trotz vorgenommener Lockerungen mit dem Hinweis auf Corona weiter bestehen bleiben könnten.Die Grundrechte müssen daher umgehend und vollständig wiederhergestellt werden.

Rolf Aschenbeck

1Interview mit Gerd Bosbach

2Coronavirus Leopoldina, Stellungnahme April 2020