Verweigerungspartei FDP

Das Klima-»Sofortprogramm« des Bundesverkehrsministers Volker Wissing ist ein Affront. Gegen die Koalitionspartner, die Bevölkerung, den Rest der Welt. Die FDP insgesamt hat das Nichtstun zum politischen Programm erhoben. Lesen Sie die redaktionell geänderte Kolumne con Christian Stöcker, „Spiegel Wissenschaft“ entnommen.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten einen Bankkredit über 275.000 Euro aufgenommen, den Sie laut Vertrag bis 2030 abbezahlen müssten. Und dann gingen Sie zur Bank und erklärten den Leuten dort, dass Sie bis dahin leider nur 13.660 Euro aufbringen könnten. Der Rest müsse irgendwo anders herkommen. Was glauben Sie, wie die Bank reagieren würde?

Das mag jetzt lustig klingen, aber es ist die aktuelle politische Linie der Regierungspartei FDP.

Erinnern Sie sich noch an diese Wahlplakate? Christian Lindner von der linken Seite aus aufgenommen, mit weißen iPhone-Kopfhörern im Ohr, konzentriert auf sein Handy starrend, mit der Zeile: »Digital First. Bedenken Second. Denken wir neu.«

Das ist das Image, das die FDP, deren Amtsträger schon morgens beim Aufwachen als erstes »Innovation« murmeln, gerne hätte: jung, dynamisch, veränderungsbereit.

Veränderungs- und innovationsunwillig

Die wahre Lindner-FDP ist das genaue Gegenteil. Rückwärtsgewandt, veränderungs- und innovationsunwillig, besitzstandswahrend und ohne jede politische Vision jenseits einer Minderheit mit viel Geld, die mit Hilfe der FDP genauso weiterleben möchte wie bisher.

Noch mal kurz zur Erinnerung, wie die Dinge wirklich liegen: Der Planet Erde bewegt sich gerade mit hohem Tempo in eine Ausnahmesituation hinein, die es während der gesamten Existenz der menschlichen Zivilisation noch nicht gab. Die immer weiter beschleunigte Zerstörung unserer Lebensgrundlagen bildet mit einer weiterhin ebenfalls beschleunigten technologischen Entwicklung und der damit einhergehenden, immer weiter zunehmenden gesellschaftlichen Instabilität einen perfekten Cocktail absolut zwangsläufiger, unausweichlicher Veränderung.

Deutschland und Europa sind daran maßgeblich mitschuldig.

Zwangsläufig und unausweichlich

Einen Teil der unausweichlichen Veränderung können wir aktiv gestalten, ein anderer ist dem menschlichen Zugriff vorläufig entzogen. Es wird erst einmal weiterhin heißer, gefährlicher, trockener, oder aber auch nasser, jedenfalls extremer. Egal, was wir kurz- und mittelfristig tun.

Mittel- und langfristig geht diese Entwicklung entweder so weiter, bis sie die menschliche Zivilisation ausradiert. Oder wir reißen das Ruder noch herum. Es wird sich sehr viel verändern müssen, in sehr kurzer Zeit. Wenn wir es gut machen, ist die Welt anschließend schöner, heller, leiser, sauberer, gesünder und gerechter. Dazu ist es aber notwendig, dass wir den Teil der Veränderung, den wir beeinflussen können, gestalten.

So sind die Fakten

Was uns zurück zur FDP bringt. Die vermeintliche Innovations- und Veränderungspartei agiert so, als gäbe es die eben zusammengefassten Fakten nicht.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) zum Beispiel hat im Sommer ein sogenanntes Sofortprogramm vorgelegt, weil sein Ministerium seit Jahren die Sektorziele für den Klimaschutz reißt. Die Emissionen im Verkehrsbereich müssten bis 2030 insgesamt um etwa 275 Millionen Tonnen CO₂, kurz Megatonnen, sinken.

Das Programm, das Wissing vorgelegt hat, reicht für 13,66 Megatonnen Reduktion. Und schon diese zwei Nachkommastellen sind eine Art böser Witz, wenn man sich die Einzelposten ansieht, denn die wirken eher wie ein Wunschzettel. Krassestes Beispiel ist der fromme Wunsch – mehr ist es eben nicht – dass der Fortbestand von Home-Office-Regelungen über die Pandemie hinaus pro Jahr eine halbe Megatonne CO₂ einsparen werde.

Das ist offensichtlich auch nicht einfach Unfähigkeit oder Faulheit, sondern Strategie: Christian Lindner hat schon ziemlich unverblümt erklärt, dass er sich an die bestehende Regelung für die sogenannten Sektorziele nicht gebunden fühlt. Im Klartext: Das, was die FDP-Ministerien nicht hinkriegen, soll irgendjemand anderes ausgleichen. Im Bereich Verkehr soll sich offenbar einfach gar nichts ändern. Nichtstun First. Bedenken Second.

Den Porsche-Chef immer im Ohr

All das scheint vor allem nach dem Willen Lindners zu laufen, der hier der eigentliche ideologische Treiber zu sein scheint. Immer den Porsche- und nun auch VW-Chef Blume im Ohr : Schnellfahren, große Autos, große Verbrennungsmotoren, Autobahn, Dienstwagen, huiiiiii!

Tatsächlich verbirgt sich hinter der Weigerung des FDP-Verkehrsministers und des Finanzministers, irgendeinen relevanten Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise zu leisten, eine tiefere, selbstzerstörerische Ideologie. Die Lindner-FDP versucht weiterhin so zu tun, als sei die Abwesenheit von Veränderung eine reale Möglichkeit:

1.Weiterhin sollen große, schwere, teure, viel CO₂ ausstoßenden Dienstwagen steuerlich privilegiert werden. Die höchste ungerechtfertigte Steuerersparnis erzielen dabei die Steuerpflichtigen mit den höchsten Steuersätzen.

2.Ein Tempolimit soll es weiterhin nicht geben.
Am liebsten hätte Lindner auch noch das absehbare Aus des Verbrennungsmotors verhindert (diese Woche hat übrigens auch der Riesenmarkt Kalifornien beschlossen, ab 2035 keine neuen Verbrenner mehr zuzulassen).

Zur Orientierung: Allein ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen würde Zahlen des Umweltbundesamtes zufolge bis 2030 mehr CO₂ einsparen als die 13,66 Megatonnen, die Wissings Larifari-Vorschlag verspricht. Diese Geschwindigkeitsbegrenzung ist keineswegs Ausdruck einer totalitären Ideologie, wie man in der FDP gern zu suggerieren versucht, sondern in europäischen Staaten wie Schweden, Irland, Belgien, Portugal, Spanien und sogar der freiheitsliebenden Schweiz längst Standard.

Selbst ein Tempolimit von 130 km/h (wie in etwa Italien, dem Mutterland von Lamborghini, Maserati und Ferrari) würde bis 2030 12 Megatonnen CO₂ einsparen. Also immer noch fast so viel wie Wissings Luftnummer. Nur eben tatsächlich, nicht bloß gehofft. Kombiniert mit einem 9-Euro-Ticket wären das dann schon knapp 70 Megatonnen Einsparung. Immer noch weit vom Ziel entfernt, aber immerhin etwas.

3.Das 9-Euro-Ticket oder eine andere Version eines flächendeckend günstigen öffentlichen Verkehrs lehnt die FDP ab.

Änderungen überfällig

Die FDP versucht derzeit, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass sich in Deutschland eigentlich nichts ändern muss. Doch Wissings Progrämmchen würde gerade mal für ein Zwanzigstel des eigentlichen Ziels reichen. Wenn es denn funktionieren würde, was, wie gesagt, viel mit Wunschdenken zu tun hat.

Wenn man diesen dramatischen Abstand in den Blick nimmt, wird auch klar, was die FDP derzeit mit Fingern in beiden Ohren und lautem Lalalala auszublenden versucht, nämlich das sich sehr viel ändern muss z.B. in der Art, wie wir uns in Deutschland fortbewegen, und zwar sehr schnell.

Weniger Autoverkehr, Tempolimit, mehr auf die Schiene, mehr Fahrrad, mehr Carsharing und Carpooling, mehr Elektromobilität, viel, viel mehr öffentlicher Nah- und Regionalverkehr.

Selbst dann erscheint es nach aktuellem Stand eher optimistisch, dass wir das Ziel für den Verkehrsbereich bis 2030 wirklich vollständig erreichen. Der Verkehrsminister und sein Parteivorsitzender aber haben als Devise ausgegeben: »Wir versuchen es erst gar nicht!«

Lebensgrundlagen erhalten

Damit da keine Missverständnisse aufkommen: In diese neue, andere, leisere, sauberere, gesündere, schönere Welt müssen wir zwangsläufig, denn sonst ist es bald vorbei mit den menschlichen Lebensgrundlagen. Und wenn Deutschland es nicht vormacht, warum sollten etwa Entwicklungsländer dann auch nur den Versuch unternehmen?
Das aber erfordert echte, schnelle, tiefgreifende Veränderung, nicht nur fiktive. Und real umgesetzte, nicht nur mantraartig dahergesagte »Innovation«.

Wir können uns in einer existentiellen Krise keine Minister leisten, deren politisches Programm sich auf Blockade, Realitätsverweigerung und magisches Denken beschränkt.