Unwertes Leben

Die befristeten Maßnahmen der Bundesregierung, gemeint sind die massiven Einschränkungen, werden von der Bevölkerung weitgehend akzeptiert.  Ob diese Akzeptanz auch für die vorgesehene Lockerung der Einschränkungen gilt, sollte von grundrechtskonformen Maßnahmen abhängen.

Es gibt Überlegungen im Kanzleramt und im Bundesgesundheitsministerium, die massiven Einschränkungen in absehbarer Zeit zu lockern und danach in weiteren Schritten zur Normalität zurückzukehren. Minister Spahn hat bereits angekündigt, er wolle ein entsprechendes Konzept erarbeiten. Das scheint ein vernünftiges Verfahren zu sein, wären da nicht Aussagen, die erschrecken.

Ausgrenzung

So hat der Bürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, vorgeschlagen, Menschen über 65 Jahre und Risikogruppen „aus dem Alltag herauszunehmen“ und Jüngere, die weniger gefährdet sind, nach und nach „kontrolliert wieder in den Produktionsprozess“ zu integrieren. Der Kanzleramtsminister Helge Braun hat gesagt, man werde „junge Menschen zuerst wieder auf die Straße lassen“.   Und die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff sagte dem Handelsblatt, „Ich denke, es wird über kurz oder lang darauf hinauslaufen müssen, dass die einschneidenden Restriktionen sich auf Ruheständler und andere spezielle Risikogruppen konzentrieren. Franz Müntefering, der ehemalige Bundesarbeitsminister und Vizekanzler hat gegenüber dem RND geäußert, „Es kann zu einem späteren Zeitpunkt durchaus berechtigt sein, dass die Öffnung der Gesellschaft mit unterschiedlichem Tempo erfolgt.“

Meinungsmache statt Aufklärung

Das sind nur einige Aussagen, die keine Einzelmeinungen sind, sondern mehr oder weniger stark in den Parteien und in sozialen Gruppen verankert sind, je nachdem, wie stark das neoliberale Gedankengut jeweils existent ist. Aber auch Journalisten haben sich unrühmlich hervorgetan, wenn es um Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen geht. Etwa Mathis Neuburger, der in einem Kommentar der Mopo (vor der Ausgangssperre) folgende Meinung vertritt(auszugsweise wiedergegeben): „Nach diesem Wochenende bin ich mir nicht mehr so sicher, ob wir die Corona-Krise halbwegs glimpflich überstehen werden. Und schuld daran sind nicht gedankenlose oder unsolidarische junge Hamburger, sondern ausgerechnet die am schlimmsten Betroffenen, die Älteren.“ Weiter heißt es: „Es wäre schön, wenn auch die Alten ihr Verhalten radikal ändern würden. Freunde fragen verzweifelt, ob man noch Argumentationshilfen kennt, mit denen sie ihre Eltern überzeugen können, endlich auf ihre sozialen Kontakte zu verzichten. Andere berichten erleichtert, endlich haben sie es begriffen“.

Diese anmaßenden, falschen und diskriminierenden Beurteilungen, oder besser Verurteilungen sind leider kein Einzelfall, sondern typisch für eine Art Journalismus, der auf Meinungsmache und Stimmungsmache setzt und nicht auf Aufklärung und Information. Solche Journalisten beschwören Solidarität und befördern Ausgrenzung. Das ist pure Heuchelei. Oder aber Zynismus.

Wer ist gemeint

Bevormundung und soziale Ausgrenzung statt Solidarität sind leider nicht nur bei bestimmten Journalisten üblich, sondern auch bei nicht wenigen Amtsinhabern, zumal nicht ganz klar ist, wer denn nun eigentlich ausgegrenzt werden soll. Sollen die Risikogruppen gemeint sein, können es nur Personen unabhängig vom Alter sein.. Wie sollen jedoch diese Personen bei der Lockerung der massiven Einschränkungen unterschieden werden von denen, die das Risiko einer Erkrankung nicht haben? Das wird nicht funktionieren.

Sollen jedoch Senioren, Alte oder Personen über 65 Jahre ausgegrenzt werden und sollen damit alle Rentner und Pensionäre gemeint, soll man das auch sagen. Bei dieser heterogenen Gruppe wird pauschal das Risiko einer infektiösen Erkrankung unterstellt, was falsch ist, zumal Vorerkrankungen auch bei einem erheblichen Anteil der Junioren festzustellen ist.

Vorerkrankungen / Infektionen 

So hat das RKI festgestellt, dass nach aktuellen Zahlen die 35- bis 59- jährigen am stärksten von einer Infektion mit dem Coronavirus betroffen sind. Danach folgen die 15-bis 34-jährigen, und erst dann die 60- bis 79-jährigen. Wer keine solche Infektion hat, kann auch nicht daran erkranken.

Vorerkrankungen und Infektionen sind daher nicht altersspezifisch. Maßnahmen gegen die vorgenannte Altersgruppe, die nicht mehr im „Produktionsprozeß“ ist, wären offensichtlich ohne Grundlage und daher willkürlich.

Als typische Vorerkrankungen von beatmungspflichtigen Patienten wurden in Straßburg dem DIFKM1-Bericht zufolge die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Asthma, Pneumonie, Diabetes, Adipositas und Bluthochdruck ausgemacht.

Produktionsfaktor Mensch

Jetzt weiß ich auch, warum Parteien ihre älteren/alten Mitglieder ausgrenzen, die in der Seniorenunion oder in der AG 60plus zusammengefasst sind. Sind sie etwa ein Risiko für die Parteien? Dann sollten die Parteien auch so ehrlich sein und sich von diesem Risiko trennen und nur noch Personen als Mitglieder aufnehmen, die nicht im Rentenalter sind. Sie könnten dann endgültig klargestellen, dass es auf das Verwertungsinteresse ankommt und nicht auf das solidarische Miteinander der Generationen in einer humanen Gesellschaft. Dieses kapitalistische Verwertungsinteresse reduziert den Menschen auf seine Funktion als Produktionsfaktor. Nur dann hat er eine Arbeit und einen Wert. Schon ein Arbeitsloser mit Hartz IV fühlt sich minderwertig und ausgegrenzt und wird auch so behandelt.

Szenario:

Cafe, Imbiss und Restaurant sind für die Menschen im „Produktionsprozess“ wieder zugänglich, nicht jedoch für die Rentner, weil diese nicht dazu gehören und vermeintlich noch geschützt werden müssen. Will ein Rentner sich dennoch im Cafe an einen Tisch setzen, werden schon die autoritätsgläubigen Mitmenschen z.B. mit Gestik, Mimik und auch verbal selbst dafür sorgen, dass er sofort wieder gehen muss, wenn er als Rentner erkennbar ist. Eine solche Reaktion ist vergleichbar mit den Beschimpfungen der Besitzer von Zweitwohnungen. In beiden Fällen findet eine Ausgrenzung statt, die hoffentlich staatlich nicht gewollt ist, aber dennoch herbeigeführt wird. 

Was mit der Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe beginnt, kann ein totalitärer Ansatz sein und ungewollt mit der Vernichtung unwerten Lebens enden. Wer die Geschichte kennt, weiß, was auf uns zukommen könnte.

1Deutsches Institut für Katastrophenmedizin

Rolf Aschenbeck

PS:Hinweis der Zeitschrift „DerSpiegel“ : Der Vizegouverneur von Texas hat Ältere aufgerufen, sich für die Zukunft ihrer Enkel zu opfern.

 

Bestätigung der Ausgrenzung

28.März 2020, Tagesspiegel, Auszug aus dem Interview mit Helge Braun:

Sie haben ja bereits gesagt, als erstes dürfen die Jüngeren wieder raus. Haben Sie schon einen Stufen-Plan in der Schublade?

Über diese Schlagzeile war ich nicht sehr glücklich, weil die eigentliche Aussage lautet: Wir reden jetzt bis zum 20. April nicht über irgendwelche Erleichterungen. Bis dahin bleiben alle Maßnahmen bestehen. Läden, Restaurants, Schulen und die Universitäten sind geschlossen. Rechtzeitig vor dem 20. stellen wir vor, wie es in der Phase danach weitergeht.

Die besonders gefährdeten älteren Menschen müssen noch viele Monate mit Einschränkungen rechnen, oder?

Eins ist allen Modellen gemein, egal, wie wir uns entscheiden: dass die älteren und vorerkrankten Menschen in unserer Gesellschaft, wirksam vor einer Infektion geschützt werden müssen, bis es einen Impfstoff gibt. Die Älteren und Kranken werden ihre Kontakte deutlich länger reduzieren müssen. Das ist eine wichtige Grundaussage, und das kann man schon absehen.

Willkür

Sollten tatsächlich Ältere und Kranke insgesamt ausgegrenzt werden, wird Willkür zur Handlungsgrundlage. Eine solche Ausgrenzung wird nicht ohne Reaktion bleiben, zumal völlig unklar ist, wer konkret gemeint ist. Sind es Personen mit Vorerkrankungen, sind es Kranke, oder sind es Ältere oder Alte ab welchem Alter jeweils? Wird z.B. für Menschen mit Asthma oder mit Diabetes und sonstigen Vorerkrankungen das Kontaktverbot auf unbestimmte Zeit, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht, bestehen bleiben ? Wie soll eine Person mit einer Vorerkrankung erkannt werden? Bekommt sie einen Stern? Oder wird tatsächlich pauschal ab einem bestimmten Alter, z.B. ab 50,55.60 Jahre, das erhöhte Risiko einer Infektion unterstellt? Soll die Polizei kontrollieren, wie alt jemand ist und ihn bei einer Überschreitung der Altersgrenze maßregeln und vertreiben?

Willkür muss sich niemand bieten lassen. Auch die müssen sich dagegen wehren, die noch nicht betroffen sind.

image_printDrucken