Stammwähler

Stammwähler sind wie Stammkunden. Sie fühlen sich gebunden, wenn sie den Eindruck haben, dass die Angebote ihre Interessen berücksichtigen und ihrer Lebensart nahekommen. Solche Angebote macht die SPD ihren bisherigen Stammwählern immer weniger mit der Folge, dass diese sich abwenden. Lesen Sie den gekürzten und inhaltlich geänderten Beitrag von Thomas Balbierer und Anika Blatz, der SZ entnommen.

Ende November steht Lilli Samhuber in einem kleinen Gärtnereizelt am Rande des Münchner Viktualienmarkts. Um sie herum liegen Adventskränze aus Tannenzweigen am Boden, ihr süßlich-herber Duft steigt trotz Schutzmaske in die Nase. Samhuber ist eine freundliche Frau mit rauer Stimme, die ebenso laut lachen wie fluchen kann. Spricht man mit ihr über Politik, überwiegt allerdings das Fluchen: Die Mieten seien viel zu hoch, die Renten viel zu niedrig. Globalisierung nutze nur den „Superreichen“.

Als Sahra Wagenknecht in einem SZ-Interview kürzlich davon sprach, dass Parteien wie SPD und Linke die „normalen Menschen“ mit Debatten um „Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestyle-Fragen“ vergraulten, hatte sie vielleicht jemanden wie Lilli Samhuber vor Augen: Eine Arbeiterin aus der Provinz, die gendergerechte Sprache für „Spinnereien“ hält und das Gefühl hat, dass Politik „nicht mehr auf uns schaut“. Wagenknecht sagte: „Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Parteien kaum noch gewählt.“ Samhuber machte ihr Kreuz zuletzt bei der AfD – aus Protest, wie sie sagt.

SPD hat innerhalb von 20 Jahren ihr Wahlergebnis halbiert

Die ehemalige Fraktionschefin der Linken ist nicht die einzige prominente Politikerin, die glaubt, dass Linke und SPD zu sehr Minderheitsthemen bedienen, statt sich „um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten“ zu kümmern. Sigmar Gabriel, ehemaliger SPD-Chef, warnte seine Partei schon vor Jahren vor dem Trump-Effekt. „Wer die Arbeiter des Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen.“ In Deutschland wählen die Hipster auch noch viel lieber grün.

Den Niedergang der roten Parteien machen ein paar Zahlen deutlich: In Umfragen kommen SPD und Linke zusammen kaum noch über 25 Prozent. Bei der Bundestagswahl 1998 erreichte die SPD noch ganz allein ein Wahlergebnis von 40,9 Prozent. Laut Analyse der Forschungsgruppe Wahlen stimmten damals 48 Prozent der Arbeiter für die Sozialdemokraten. 2017 waren beide Werte nur noch halb so groß. Auch die Linke, aus dem politischen Widerstand gegen die Schröder-SPD geboren, hat große Teile ihrer Stammwählerschaft verloren: Arbeitslose und prekär Beschäftigte wählten 2017 am häufigsten die AfD. „Bei denen habe ich das Gefühl, dass die noch etwas für die Deutschen machen“, sagt Lilli Samhuber. Und das, obwohl die AfD noch nie in einer Regierung saß. Was läuft da falsch?

Kritik u.a. an der Milliarden-Hilfe für die Lufthansa
 
Viktor Kibler könnte der geborene SPD-Wähler sein: Industriearbeiter, Steuerzahler, Wohnungseigentümer, Sohn von Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion. Seine Stimme kriegen die Sozialdemokraten trotzdem nicht. Der 27-Jährige arbeitet am Fließband eines bayerischen Autoherstellers – ein Knochenjob, der immerhin ordentlich bezahlt wird. Ihn beschäftigt zum Beispiel, dass Leiharbeiter in der Zuliefererindustrie für eine ähnliche Arbeit nur den Mindestlohn verdienten, während er als Festangestellter etwa doppelt so viel bekomme. Und es macht ihn fassungslos, dass monatelang über die Details der Grundrente gestritten werde, während in der Corona-Krise plötzlich Milliarden da seien, um Unternehmen wie die Lufthansa zu retten. Er hat das Gefühl, dass die „ältere Bevölkerung, die seit Jahrzehnten im Job und der Erziehung schuftet, im Stich gelassen wird“. Er meint damit auch seine Mutter, die mit 60 arbeitslos geworden ist und jetzt reihenweise Bewerbungen schreiben und Schulungen der Arbeitsagentur besuchen müsse.

Die SPD hat Kibler nicht etwa wegen einer Gendersternchen-Debatte verloren, sondern weil sie für ihn das Versprechen der sozialen Gerechtigkeit nicht eingelöst hat. „Der Mindestlohn müsste viel höher sein, wenn die Menschen diese extremen Mietpreise in manchen Regionen bezahlen sollen“, sagt er zum Beispiel. Auch in einem anderen Punkt ist Kibler mit der Regierungspartei SPD nicht zufrieden: der Flüchtlingspolitik. „Meine Eltern waren selber Asylbewerber, und es gibt viele Flüchtlinge, die etwas erreichen wollen“, sagt er. Aber insgesamt hätte die Zuwanderung seit 2015 „viel besser kontrolliert“ werden müssen, findet er. Aus Frust über die etablierten Parteien wählte Kibler zuletzt die Satiregruppe „Die Partei“, die in ihrem Wahlprogramm zum Beispiel eine Bierpreisbremse fordert.

SPD solle sich weniger an Bildungsbürger wenden, so ein Politologe
 
An Kibler wird ein Dilemma der Sozialdemokratie deutlich, das der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk vor einem Jahr in der Zeit beschrieb: Um in der Kernzielgruppe der Arbeiterschaft wieder erfolgreicher zu sein, müsste die Partei „in wirtschaftlichen Fragen ein wenig nach links rücken“ und zugleich in „gesellschaftlichen Fragen spürbar konservativer werden“. Mounk ist wie Gabriel und Wagenknecht überzeugt, dass die politische Linke ihr Wohl in der Arbeiterklasse suchen sollte, statt „das wachsende Publikum der weltoffenen Bildungsbürger zu umschmeicheln“.

 

Die Ausnahme

Etwas Strahlkraft scheint das sozialdemokratische Versprechen aber noch zu haben. Jeremias Hebestreit, 17, lebt in Nordwestmecklenburg und macht dort eine Ausbildung zum Wasserversorgungstechniker. Und er ist Mitglied der Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Warum? „Weil mir die Partei in ihrem Grundgedanken sehr nahe ist“, sagt er. „Ich möchte, dass wir endlich in einem gerechteren und zukunftsfähigen Deutschland leben.“ Statt den etablierten Parteien wie Samhuber und Kibler den Rücken zu kehren, glaubt Hebestreit noch daran, politisch etwas bewegen zu können. Zum Beispiel, wenn es um die Digitalisierung in Deutschlands Schulen geht. „Ein Beispiel aus meiner Berufsschule: Wir können mit 15 Leuten nicht gleichzeitig Recherchen durchführen, weil das Internet zu schlecht ist“, klagt Hebestreit. Er würde sich mehr politischen Druck wünschen, um den Fortschritt voranzutreiben und vom „Frontalunterricht“ loszukommen. „Aber es gibt mehr Autogipfel als Schulgipfel.“

Im nächsten Jahr ist Bundestagswahl, und Hebestreit würde sein Kreuz ohne zu zögern bei der SPD machen. Schade nur für ihn und die Sozialdemokratie, dass er dann noch nicht 18 ist.

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