Schlendrian

Lausige Infrastruktur, lahmende Behörden, lustlose Debatten – wann ist das Land eigentlich falsch abgebogen? Das fragt der stellv. Chefrdakteur des Hamburger Abendblatts(HA), Matthias Iken, und ärgert sich über den deutschen Schlendrian. Lesen Sie seinen gekürzten und redaktionell geänderten Beitrag, dem HA entnommen.

Früher galt Bayern als das bessere Deutschland – vergessen Sie’s. Wer dieser Tage aus dem größten Bundesland zurückkehrt, das die CSU (mit Ausnahme der Jahre 1954 bis 1957) seit dem Zweiten Weltkrieg regiert, reibt sich verwundert die Augen: Seit dem verheerenden Bahnunglück, das im Juni fünf Menschenleben auf der Zugstrecke nach Garmisch forderte, geht auch im Süden nichts mehr.

Der Zugverkehr in die Alpen endet bei Murnau am Staffelsee – auch die Züge von dort in die Festspielgemeinde Oberammergau verkehren seit Wochen nicht mehr. Verantwortlich für den Streckenausfall sind Schäden am Gleis. Und die Heerscharen von Reisenden, die das 9-Euro-Ticket durchs Land schaufelt, müssen auf Busse umsteigen.

Deutschland, der vermeintlich disziplinierte Organisationsweltmeister, steht vor einem verkehrspolitischen Scherbenhaufen. Eine gescheiterte Bahn-Privatisierung, eine vernachlässigte Infrastruktur und eine seltsame Auslandsexpansion haben die Deutsche Bahn, nach der man einstmals die Uhr stellen konnte, zum Gespött des Kontinents gemacht. Leider gilt das nicht nur für die Bahn. Ist der Service der Post eigentlich in den vergangenen Jahren besser geworden? Wie viele Filialen sind geblieben, wo stehen noch Briefkästen, bei wem holen wir die Pakete ab, wie oft gelangen Briefe gar nicht ans Ziel? Und warum kommt montags nie mehr Post?

 Infrastruktur

Die Gags über den Berliner Flughafen BER und die Elbphilharmonie haben lange Bärte. Der Hauptstadt-Airport wurde nicht wie geplant 2011 fertig, sondern 2020, gleich siebenmal wurde der Eröffnungstermin verschoben. Dafür verdreifachten sich die Kosten von 1,9 Milliarden Euro auf mehr als sechs Milliarden. Die Hamburger können es noch besser: Die Elbphilharmonie, so kalkulierte die Stadt, sollte den Steuerzahler 77 Millionen Euro kosten, am Ende wurden es mit 789 über zehnmal so viel.

Was waren die Deutschen stolz auf ihre effizienten Straßen, Gleise, Autobahnen. Und heute? Die Sperrung Ende 2021 und notwendige Sprengung der Talbrücke Rahmede auf der A 45 im Sauerland verdeutlicht schlaglichtartig, wie marode unsere Infrastruktur ist. Von 43.747 Brücken auf Bundesfernstraßen befindet sich jede siebte in einem kritischen Zustand, offenbarte eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion im Herbst 2021.

Von den knapp 6000 maroden Brücken bewertet das Bundesverkehrsministerium 2528 mit der schlechtesten Zustandsnote „Stufe V“. Seit den 80er-Jahren haben die Bundesregierungen die Infrastruktur sträflich vernachlässigt – selbst in den üppigen Jahren der Merkel-Ära wurde weniger investiert, als allein der Erhalt erfordert hätte.

Die Pandemie hat schonungslos aufgezeigt, wo Schwächen in der Datenerarbeitung liegen. Faxende Gesundheitsämter sind zu einem Synonym geworden, wo die Verwaltung nicht funktioniert. Bei der Digitalisierung hängt die Bundesrepublik hoffnungslos zurück. Auch im dritten Pandemiejahr sind die Zahlen des Robert-Koch-Instituts so genau wie ein Bahnfahrplan. Nichts Genaues weiß man nicht. Jedes Wochenende, jeder Brückentag, jedes Ferienloch bringt die Zahlen durcheinander. Hamburg und das RKI weisen voneinander völlig abweichende Zahlen aus. Und kaum einen scheint es zu stören.

Ist das Schlendrian?

Neoliberalismus

Vielleicht muss man tiefer gründen. Eine der Ursachen, die unsere heutigen Fehlerketten zumindest in Teilen zu erklären vermag, ist der Neoliberalismus. Seit den 80er-Jahren befindet sich der Staat auf dem Rückzug. Private Anbieter – so lautete das Versprechen – machen alles günstiger und effizienter. Nur: Wer sich allein auf den Markt verlässt, der ist schnell verlassen. Nachhaltigkeit ist eben abseits bunter PR-Kampagnen oftmals kein wichtiger Faktor; da zählt das Heute, nicht das Morgen, da wird auf Verschleiß gefahren, da werden Investitionen zurückgestellt, da denkt man nicht in Generationen, sondern in Quartalsberichten.

So war es bei der Bahn, bei der Post, so bei der Privatisierung der großen Versorger, so im Gesundheitswesen. Und so war es auch bei der Schnapsidee, hoheitliche Aufgaben wie Sicherheitschecks an Flughäfen an private Dienstleister zu vergeben. Die hohen Erwartungen, die hübschen Versprechungen, wurden enttäuscht. Die Preisexplosionen bei öffentlichen Bauten sind Folgen von Fehlplanungen und mangelnder Aufsicht und eingesparter Kompetenz in den Behörden. Wer beim nächsten Mal Privatisierungen als Lösung aller Probleme empfiehlt, sollte Widerworte bekommen. Der schlanke Staat macht sich einen schlanken Fuß, wenn es um seine Kernaufgaben geht. Daseinsfürsorge als Aufgabe des Staates ist ein Wort, das wir wieder neu lernen müssen.

Ideologisierung

Doch es ist nicht nur der Irrtum des Neoliberalismus, es ist auch eine Schwäche des politischen Diskurses. Wir neigen dazu, Probleme zu ideologisieren und zu überhöhen, statt nach pragmatischen und einfachen Lösungen zu suchen. Auch die Rolle der Medien als Vermittler von Standpunkten und Marktplatz des Austausches von Argumenten droht auszufallen – in manchen Bereichen wirken sie dysfunktional.

Gewisse Positionen gelten als heutzutage nicht darstell- und vermittelbar und tauchen einfach nicht mehr auf. Wer für Atomkraft und gegen den Kohleausstieg ist, für eine Verschärfung des Asylrechts oder gegen die Corona-Regeln, vertritt in den Augen zu vieler keine diskussionswürdige Position mehr, sondern ist ein böser Mensch, ein Klima- oder Corona-Leugner, ein Schwurbler, ein Wutbürger, ein Rechter. Wer die „falschen“ Argumente vertritt, ist schnell raus.

Natürlich muss man derlei Positionen nicht teilen, aber man sollte sie diskutieren. Die Energiewende wird seit zwei Jahrzehnten debattiert, trotzdem ist die Republik in die Falle getappt. Weil keiner sagen mochte und keiner hören wollte, wohin die Abhängigkeiten führten. Leider fallen auch viele Meinungsmacher und Journalisten aus der Rolle, sie sind nicht mehr Schiedsrichter und Ermöglicher einer offenen Debatte, sondern Partei und Verhinderer von Debatten.

Doch vielen ist die richtige Haltung, die jede Suche erspart, wichtiger als die Suche nach der richtigen Lösung. Sie haben Positionen bezogen, ohne sich die Mühe machen, sie inhaltlich zu prüfen, weil sie es nicht können oder wollen. Hier könnte sich rächen, dass das moderne Bildungsideal bewerten und einordnen wichtiger findet als Wissen. Die Energiedebatte zeigt: Viele haben keine Ahnung, aber eine sehr klare Meinung.

Sekundärtugenden

Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Fleiß, Disziplin, Pflichtbewusstsein wurden zu sogenannten „Sekundärtugenden“ heruntergestuft, mit denen man „auch ein KZ betreiben kann“ (Oskar Lafontaine). Immerhin: Das kann man den Deutschen heute nicht mehr nachsagen. Ein Blick auf die Bahn, die Flughäfen, die Corona-Maßnahmen oder die Energiepolitik genügt. Und mit dem Fleiß ist das auch so eine  Sache: Arbeit ist für viele nicht mehr sinnstiftend, sondern das Hindernis in der persönlichen Work-Life-Balance.

Kritische Bestandsaufnahme

Die Frage ist nur, ob es so bleiben kann und soll. Eine kritische Bestandsaufnahme des deutschen Schlendrians ist bislang nur in Teilen zu erkennen – offenbar auch, weil allein schon die Beschreibung vielen politisch verdächtig ist. Es gibt eine verbreitete Unlust, Fragen zur Lage des Landes überhaupt zu stellen. Stattdessen flüchtet man sich in ein idealistisches Wolkenkuckucksheim: Lieber retten die Deutschen die ganze Welt als erst einmal ihre eigene Infrastruktur. Und auch wenn es nun populär ist, mit dem Finger auf die großen Versäumnisse der Ära Merkel zu verweisen – vier Finger zeigen auf uns zurück. Wie keine andere hat die Kanzlerin die Wünsche der Deutschen wortgetreu umgesetzt. Allein in ihrer zweiten Amtszeit, als sie holterdiepolter erst die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängerte und dann den Atomausstieg beschloss, hat das Kanzleramt 600 Meinungsumfragen beauftragt, was die Bürger gerade wünschen, wollen oder ablehnen.

Die Krise, in der wir uns heute befinden, hat eine Mehrheit mit herbeigewählt. Und um hier herauszufinden, wird auch die Mehrheit gebraucht werden. Blut- Schweiß-und-Tränen-Reden sind ja aus der Mode gekommen, aber vielleicht sind sie nötiger als das Versprechen des Kanzlers „You’ll never walk alone“. Natürlich soll niemand alleingelassen werden – aber dann müssen auch alle mitziehen.

Immer mehr Menschen dämmert es, dass es so nicht weitergehen kann. Auch die Bundesregierung handelt nicht mehr vorrangig auf der Grundlage der kurzzeitiger Geltung von Meinungsumfragen. Wie wusste schon Albert Einstein? „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

Höchste Zeit für eine Zeitenwende auch im Kopf. Sie ist alternativlos.

 

Kommentar

Man muss mit den Inhalten dieses Beitrags nicht übereinstimmen, aber man sollte sich zumindest mit ihnen beschäftigen. Es wäre ja möglich, dann zu einer modifizierten Position zu kommen. Das wäre dann ein Erkenntnisgewinn, der auch dazu führt, eigene Meinungen infrage zu stellen, wenn sie mit geänderten Inhalten nicht mehr übereinstimmen.

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