Russland und die Nato

Helmut Schmidt im Interview mit Matthias Naß am 27.März 2014 über Russlands Recht auf die Krim, die Überreaktion des Westens und den Unsinn von Sanktionen. Für den ehemaligen Bundeskanzler ist Putins Vorgehen verständlich. Lesen Sie das immer noch aktuelle Interview, leicht gekürzt der Zeitung „Die Zeit“ entnommen.

DIE ZEIT: Herr Schmidt, Russlands Annexion der Krim ist ein klarer Bruch des Völkerrechts. Oder gibt es daran etwas zu deuteln?

Helmut Schmidt: Ein klarer Bruch des Völkerrechts? Da habe ich schon meine Zweifel.

ZEIT: Warum?

Schmidt: Das Völkerrecht ist sehr wichtig, aber es ist viele Male gebrochen worden. Zum Beispiel war die Einmischung in den libyschen Bürgerkrieg nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht; der Westen hat das Mandat des UN-Sicherheitsrates weit überzogen. Wichtiger als die Berufung auf das Völkerrecht ist die geschichtliche Entwicklung der Krim. Der Krimkrieg des Jahres 1853, der für Russland negativ ausging, in dem die Engländer, die Franzosen und das Osmanische Reich gemeinsam gekämpft haben, ist gut zwei Jahrzehnte später durch den Frieden von San Stefano im Ergebnis für Russland eindeutig positiv ausgegangen. Bis Anfang der 1990er Jahre hat der Westen nicht daran gezweifelt, dass die Krim und die Ukraine – beide – Teil Russlands seien.

ZEIT: Chruschtschow hat die Krim 1954 der Ukraine geschenkt; damit war sie nach dem Zerfall der Sowjetunion Teil des Staatsgebiets eines unabhängigen Staates.

Schmidt: Eines unabhängigen Staates, der kein Nationalstaat war. Zwischen Historikern ist umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt.

ZEIT: Trotzdem darf man die territoriale Integrität eines Staates aber doch wohl nicht einfach verletzen.

Schmidt: Das ist richtig. Andererseits kann man zweifeln, welche Konsequenzen das Geschenk von Herrn Chruschtschow im Jahre 1954 rechtlich tatsächlich hat. Da kann ein Jurist ein langes Gutachten drüber schreiben.

ZEIT: Aus Sicht des Westens jedenfalls ist es ein Bruch des Völkerrechts …

Schmidt: … ein Bruch des Völkerrechts gegenüber einem Staat, der vorübergehend durch die Revolution auf dem Maidan in Kiew nicht existierte und nicht funktionstüchtig gewesen ist.

ZEIT: Finden Sie Putins Vorgehen legitim?

Schmidt: Ich finde es durchaus verständlich. Der Ausdruck „legitim“ ist eine Kategorie, die ich hier nicht einführen würde, weil das Ganze nicht ausschließlich als Rechtsproblem betrachtet werden kann.

ZEIT: Wie gefährlich ist die jetzige Situation?

Schmidt: Sie ist gefährlich, weil der Westen sich furchtbar aufregt, was dazu führt, dass diese Aufregung des Westens natürlich für entsprechende Aufregung in der russischen öffentlichen Meinung und Politik sorgt. Hier ist ein Lob für die Vorsicht der deutschen Bundeskanzlerin angebracht.

ZEIT: Glauben Sie, dass Putin nach der Krim jetzt auch nach dem Osten der Ukraine  greifen wird?

Schmidt: Das weiß ich nicht. Und ich enthalte mich der Spekulation. Ich halte es für denkbar, aber ich halte es für einen Fehler, wenn der Westen so tut, als ob das zwangsläufig der nächste Schritt sei. Das führt dazu, dass er möglicherweise auf russischer Seite den Appetit anregt.

ZEIT: Amerika und die EU haben erste, eher symbolische Sanktionen beschlossen. Halten Sie diese Sanktionen für sinnvoll?

Schmidt: Ich halte diese Sanktionen für dummes Zeug, insbesondere den Versuch, dem Spitzenpersonal der russischen Führung das Reisen zu verbieten. Wenn es eine allgemeine Konferenz gäbe, ähnlich wie 1975 in Helsinki, dann kann man doch das Spitzenpersonal nicht von der Reise ausschließen! Eines der Probleme dieser persönlichen Sanktionen ist: Wer hebt die eigentlich wieder auf? Und wann werden sie wieder aufgehoben? In Amerika gibt es verschiedene Tendenzen. Dem zögerlichen Obama sind die Risiken viel deutlicher als etwa dem Senator McCain.

ZEIT: Wann wären härtere wirtschaftliche Sanktionen geboten?

Schmidt: Auch Wirtschaftssanktionen haben vor allem eine symbolische Bedeutung, aber sie treffen den Westen genauso wie die Russen.

ZEIT: Sollten sich Deutschland und Europa von russischer Energie unabhängiger machen

Schmidt: Das kann dabei herauskommen. Klug ist es nicht. Wenn man sich freimacht von aktuellen Überlegungen und ein bisschen in die Zukunft guckt, dann muss man erkennen, dass auch am Ende des 21. Jahrhunderts Russland ein ganz wichtiger Nachbar bleiben wird. Russland war ein wichtiger Nachbar das erste Mal zur Zeit von Katharina II. oder von Peter dem Großen, das zweite Mal beim Versuch von Napoleon, die Russen in die Ecke zu drängen; der kam dann geschlagen aus Moskau nach Hause. Dann gibt es in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Krimkriege, die die Russen verloren haben, aber von diesem Verlust haben sie sich seit den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts erholt. Und der Westen hat es hingenommen, dass die Russen ihren Marinestützpunkt auf der Krim errichtet haben. Im Ersten Weltkrieg und im Zweiten Weltkrieg standen die Russen auf der Seite des Westens. Und Deutschland stand auf der falschen Seite. Das vergessen die Deutschen heute. Es ist ganz wichtig, sich daran zu erinnern, dass trotz des Zweiten Weltkrieges die Russen den Hass auf die Deutschen hinter sich gelassen haben.

Es gibt keinen Hass im russischen Volk, keine Ablehnung der Deutschen. Es gibt im Übrigen eine Bewunderung für die deutsche Wirtschaft. Die Deutschen haben „den Affen erfunden“ -das ist eine Redensart, die irgendwann in Russland mal gegolten hat. Und in Deutschland gibt es keinen Hass auf die Russen. Das ist eine fast unglaubliche Verbesserung der Situation zu einem wichtigen Nachbarn.

 

ZEIT: Was treibt Putin an? Ist es Patriotismus, ist es übersteigerter Nationalismus? Nostalgische Sehnsucht nach der Sowjetunion, Größenwahn?

Schmidt: Es ist kein Größenwahn. Wenn Sie sich an die Stelle von Putin denken, dann würden Sie wahrscheinlich ähnlich in Sachen Krim reagieren, wie er reagiert hat.

ZEIT: Betrachtet sich Putin als neuen Zaren, der sozusagen die russische Erde wieder sammelt?

Schmidt: Nein, das würde ich nicht sagen. Bei der Phrase von der Sammlung russischer Erde ging es um die Kaschierung des russischen Imperialismus. Aber natürlich sieht er sich in der Nachfolge hinter Peter, hinter Katharina, hinter den Romanows und als Nachfolger von Lenin.

ZEIT: Versteht er etwas von Wirtschaft?

Schmidt: Ich glaube, er ist in Wirtschaftsfragen  abhängig von seinen Beratern. Es gibt zurzeit weder in Amerika noch in Russland, noch in England oder in Frankreich, noch in Deutschland, es gibt überhaupt kaum irgendwo einen Staatschef mit ökonomischem Überblick.

ZEIT: Nun unterscheidet sich die heutige Situation von der des Jahres 1968, als Breschnew in Prag einmarschiert ist, dadurch, dass Russland inzwischen Teil der Weltwirtschaft ist. Müssten die wirtschaftlichen Interessen nicht Putin davon abbringen, eine zu aggressive Politik zu betreiben?

Schmidt: Ich bin kein Fachmann für diese Fragen. Richtig ist Ihre Feststellung, dass die russische Wirtschaft Teil der Weltwirtschaft geworden ist. Putin ist kein Nachfolger von Iwan dem Schrecklichen.

ZEIT: Aber im Zweifel sind die Machtinteressen wichtiger als die wirtschaftlichen Interessen?

Schmidt: Das weiß ich nicht. Russland ist heute vom Auf und Ab der Weltwirtschaft stärker abhängig, deutlich stärker, als zur Zeit der Sowjetherrschaft – gar kein Zweifel. Wieweit sich diese Abhängigkeit Herrn Putin mitgeteilt hat, kann ich schlecht abschätzen, aber ganz sicher ist Putin alles andere als ein Nachfolger von Iwan dem Schrecklichen.

 

ZEIT: Droht Europa ein neuer Kalter Krieg?

Schmidt: Ich mache einen großen Unterschied: Das deutsche Volk will keinen Kalten Krieg. Die politischen Eliten entfernen sich im Westen möglicherweise schneller von der friedlichen Gesinnung ihrer Völker. Da gibt es übrigens einen erheblichen Unterschied: Im Baltikum und in Polen ist die öffentliche Meinung im Volk den Russen gegenüber feindlicher als sonst im Westen. Und natürlich muss die Führung des Westens ein gewisses Maß an Rücksichtnahme  auf die öffentliche Meinung in Polen und außerdem in den drei baltischen Republiken nehmen.

ZEIT: Ist es richtig, Russland aus der G 8 auszuschließen?

Schmidt: Vielleicht war diese Äußerung von Frau Merke! etwas unglücklich. Jemand, der dem anderen die Tür vor der Nase zuschlägt, muss sie eines Tages doch wieder aufmachen. Es wäre ideal, sich jetzt zusammenzusetzen. Es wäre jedenfalls dem Frieden bekömmlicher als das Androhen von Sanktionen, die in Wirklichkeit den Westen genauso treffen wie den Osten, den sie treffen sollen.

ZEIT: Russland sollte also Teil der G 8 bleiben?

Schmidt: Die G 8 ist in Wirklichkeit nicht so wichtig wie die G 20. Aus der G 20
hat man die Russen bisher nicht rauskomplimentiert

ZEIT: Erwarten Sie, dass Russland und der Westen bald zu einem normalen diplomatischen Umgang miteinander zurückfinden?

Schmidt: Es wäre wünschenswert.  Gegenwärtig  findet  in der ganzen Welt  eine Diskussion unter Historikern statt über die Entstehung des ersten Weltkriegs, den keiner wirklich wollte, und trotzdem hat er stattgefunden. Die meisten Kriege  entstehen nicht geplant. Andere sind geplant, zum Beispiel Napoleons Feldzug nach Moskau im Jahre 1811/12. Der Zweite  Weltkrieg entstand geplant, Hitler hatte ihn geplant. Ein dritter Weltkrieg ist sehr  unwahrscheinlich, aber er ist nicht total undenkbar. Zwei vorangegangene Weltkriege werden dafür sorgen, dass die gegenwärtigen politischen Führer sich dieser latenten Gefahr durchaus bewusst sind. Natürlich gibt es auch Scharfmacher. Nehmen Sie zum Beispiel die Tea-Party-Leute  …

 

Kommentar

Welch eine Wohltat sind die immer noch aktuellen Aussagen und Positionen des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, die sich deutlich unterscheiden von den Scharfmachern und kalten Kriegern, die nicht auf Verständigung setzen, sondern auf die rücksichtslose Wahrnehmung von Machtinteressen. Stoltenberg, der Generalsekretär der Nato,  ist einer von ihnen, der zudem einseitig die Positionen der USA vertritt.

Er ist der Sekretär eines Bündnisses, dessen Mitglieder ein gemeinsames Verteidigungsinteresse hatten, das von einigen Mitgliedern der Nato aber mit den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen in Lybien und im Irak in ihr Gegenteil verkehrt worden ist. Als Folge des Zerfalls der Sowjetunion und des Warschauer Paktes sind nicht etwa Vertrauen und Partnerschaft die konstitutiven Grundlagen für das Verhältnis mit Russland geworden, sondern die ungezügelte Machtausübung der USA mit den Hilfstruppen einiger Nato-Staaten. „Die politischen Eliten entfernen sich im Westen  schneller von der friedlichen Gesinnung ihrer Völker“, so Helmut Schmidt im Interview.

Die schnell vollzogene Nato-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands als Folge des umfassenden militärischen Machtanspruchs der Nato  war unnötig und soll auch nicht vereinbart worden sein.

Mehr dazu im folgenden Video: