Quellcode des Autoritären

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst eines neuen Faschismus. Doch niemand im alten Europa hat sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, weder der Papst noch die EU, Macron oder Scholz, französische Radikale oder deutsche Sozial­demokraten.So beginnt der Beitrag von Daniel Strassberg, der Zeitschrift „Republik“ entnommen.

Sie haben es erkannt: Das «Gespenst» ist eine Paraphrase des Anfangs des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels, erschienen 1848 in London. Marx und Engels wollten der Bourgeoisie Angst einjagen und der Arbeiter­klasse Mut machen, die grausamen Verhältnisse zu verändern, in denen sie lebte. Doch die Vorzeichen haben sich verkehrt: Vor dem neuen Gespenst scheint sich niemand mehr zu fürchten, die Arbeiter­klasse läuft sogar reihenweise zu ihm über. Der Krieg in der Ukraine und die Klima­katastrophe mindern das Angst­reservoir erheblich.

Die Tatsache, dass in Italien und damit in einem westeuropäischen Land, das zu den Erst­unterzeichnern der Römischen Verträge gehört, eine Partei an die Macht gekommen ist, die sich offen zum Faschismus bekennt, lockt kaum jemanden hinter dem Ofen hervor. Und dass der Senats­präsident Ignazio La Russa, der zweite Mann im Staat – dessen Kinder übrigens mit zweiten Vornamen Geronimo und Apache heissen –, eine Mussolini-Statue in seiner Wohnung aufstellt, im Parlament den Hitlergruss zeigt und einen Schwarzen in seinem Garten erschießen würde – er benützte das N-Wort –, wird entweder nicht zur Kenntnis genommen oder der Operetten­haftigkeit der italienischen Politik zugerechnet.

Die Vorsilben «Post-» oder «Neo-» helfen vielleicht, die Wieder­kehr des Faschismus zu verleugnen, ändern tun sie nichts.

Ursachen dieser Entwicklung

Daniel Binswanger analysierte in seiner Kolumne diese mehr als bedrohliche Entwicklung mithilfe des Buches «Gekränkte Freiheit» von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey aus soziologischer Sicht: «Der starke Individualismus, die flächen­deckende Valorisierung von Eigen­verantwortung und die damit einher­gehende Entwertung von öffentlicher Regulierung und staatlicher Intervention haben die Sehnsucht nach starken Autoritäten neu angestachelt und transformiert.»

Eine ähnliche These vertrat bereits Erich Fromm in seinem Buch «Die Furcht vor der Freiheit» (1941). Sie wurde später von Theodor W. Adorno und anderen in der Studie «The Authoritarian Personality» (1950) empirisch untermauert: Der Kapitalismus, so der Kern dieser These, bringe in seiner Endphase einen Persönlichkeits­typus hervor, der zu autoritären Strukturen neigt. Tatsächlich sind die meisten Faschismus­theorien der letzten hundert Jahre eine Mischung von Marxismus und Psychoanalyse – in unterschiedlichen Mischungs­verhältnissen. Der Faschismus wird im Allgemeinen als ein mehr oder weniger notwendiger Auswuchs des Kapitalismus gedeutet, der nicht nur die ökonomisch-politischen Verhältnisse, sondern auch die Psyche der Menschen regiert. Nicht dass diese Thesen falsch wären, im Gegenteil, aber mir scheint, sie zeigen lediglich die Voraussetzungen auf, unter denen der Faschismus sich immer wieder durchsetzen kann, nicht aber, mithilfe welcher Mechanismen er dies schafft.

Gegenwart

Für diese Kolumne habe ich mich stundenlang Videos mit Giorgia Meloni und Alexander Dugin ausgesetzt. Dabei bestätigte sich, dass die faschistische Technik von damals weiterhin ihre Anwendung findet. Dugin, ein ausgebildeter Philosoph und Soziologe, der als ideologischer Kopf hinter Putins aggressivem und expansivem Nationalismus gilt, bringt in allen Interviews im Grunde nur ein einziges Argument vor, das er gebetsmühlen­artig wiederholt: Wir haben auch euren Michel Foucault und eure Judith Butler gelesen, und wir haben ihre Lektion gelernt: Die Wahrheit ist lediglich ein gesellschaftliches Konstrukt. Ergo gibt es eure westliche Wahrheit, und es gibt unsere russische Wahrheit.

Und die russische Wahrheit lautet, dass Russland wieder zu einem wichtigen «eurasischen» Machtpol in einer multipolaren Welt werden muss, damit seine spezifischen nationalen Werte verteidigt werden können. Notfalls muss dieser Anspruch auch mit Waffen­gewalt durchgesetzt werden. Dugins einzige Kritik an Putin ist, dass er viel zu lange gezögert hat.

So wie Dugin die Postmoderne pervertiert, so verdreht Meloni den Sozialismus. Tatsächlich könnte man nach flüchtigem Hinhören etwa 70 Prozent ihrer Aussagen unterschreiben. Sie warnt vor der Macht der Datensammel­monster von Silicon Valley, sie wettert gegen das global agierende Finanz­kapital, das die Macht der National­staaten und ihrer Jurisdiktion aushebelt, und sie will entfremdete Arbeit bekämpfen et cetera. Alles ehrenwerte Anliegen. Doch zwischendurch lässt sie kaum auffallend Bemerkungen fallen, die in eine andere Richtung weisen. So setzt sie manchmal an die Stelle des globalen Finanz­kapitals den Eigen­namen Soros, und alle wissen, was gemeint ist: Die Juden sind schuld. Und wenn von Verarmung, entfremdeter Arbeit oder Ausbeutung die Rede ist, folgt darauf sogleich eine Tirade gegen illegale Einwanderer.

Die Kritik an der Globalisierung wird immer mit dem Bedauern über den Niedergang unserer christlich-westlichen Werte verknüpft. Sie findet mit anderen Worten für alle von ihr kritisierten Punkte einen Schuldigen und unterstellt, dass alle Probleme verschwinden würden, wenn die Schuldigen eliminiert werden.

Kluft zwischen Arm und Reich

Der weltweit gefährlichste Sprengstoff ist zweifellos die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Vor etwa vierzig Jahren gab der Neoliberalismus – aufseiten der Politik Ronald Reagan und Margaret Thatcher, aufseiten der Ökonomie Milton Friedman und die Chicago School of Economics – das Versprechen ab, durch Deregulierungen und Steuer­senkungen die Kluft zu schliessen. Wenn die Reichen noch reicher werden, fällt auch etwas für die Armen ab, war die etwas seltsame Logik dahinter. Nun, der erste Teil des Versprechens hat sich erfüllt, die Reichen wurden tatsächlich noch reicher, der zweite Teil blieb aber auf der Strecke: Die Armen wurden noch ärmer.

Die Wut über all die gebrochenen Versprechen wuchs, das Ressentiment benötigte dringend ein Narkotikum, und da war es am einfachsten, auf das altbewährte Mittel des Faschismus zurückzugreifen. Das neoliberale Versprechen stur zu wiederholen, als sei nichts geschehen, hilft nicht mehr, das musste Liz Truss schmerzlich erfahren. Der einzige Weg im Sinne des Machterhalts oder des Machtgewinns ist, wie Nietzsche zu Recht feststellte, die Wut abzulenken.

Dazu sind fünf Schritte nötig, die aufeinander logisch folgen:

1. Die Theorien und Forderungen der Gegner werden gekapert. Die SVP steht für die Rechte der Frauen ein – gegen den Islam. Meloni für die Rechte der Arbeiter – gegen die Flüchtlinge. Dugin für die Meinungs­freiheit – gegen den Westen. Diese Taktik hat drei Vorteile. Erstens werden die Unzufriedenen abgeholt, zweitens wird der eigentliche Charakter des Faschismus maskiert und drittens wird die Linke tief verunsichert. Wenn die Rechte dieselben Grundsätze vertritt wie wir, müssen wir falschliegen, denken sie insgeheim. Die Rede vom Links­faschismus macht die Runde.

2. Freund-Feind-Schema Der faschistische Staats­rechtler Carl Schmitt behauptete im Jahr 1932 (!), dass Politik ausschliesslich auf der Unter­scheidung von Freund und Feind beruhe:

Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist beim Autoritarismus die Unterscheidung von Freund und Feind. Sofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist, entspricht sie den relativ selbständigen Kriterien anderer Gegensätze wie Gut und Böse im Moralischen; Schön und Hässlich im Ästhetischen usw.

Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner im allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen hasst. Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gruppe von Menschen, die einer ebensolchen Gruppe gegenübersteht.

Politik ist im Verständnis des Autoritarismus also nicht mehr der Versuch eine bestimmte Gesellschafts­form zu verwirklichen, sondern nur noch Kampf um des Kampfes willen. Faschistische Politik hat kein Ziel, kein Gesellschafts­modell, das es zu verwirklichen gilt, es geht um den reinen Kampf. Entsprechend zeichnet sich der Gegner nicht durch bestimmte Eigenschaften oder Absichten aus, sondern nur dadurch, dass er bekämpft werden muss.

Besonders gut eignet sich der innere Feind (der Feind im eigenen Land) zur Mobilisierung der Masse, weil er überall lauert und vom Freund nicht zu unterscheiden ist. Jede Partei, die sich die Bekämpfung eines nicht näher benannten inneren Feindes auf die Fahne schreibt, sollte genauestens auf Faschismus hin geprüft werden.

3. Wenn die Politik keinen Inhalt mehr hat, bleibt die reine «Affekt-Entladung». Der Faschismus bietet, und das macht ihn so unwiderstehlich, intensives Erleben – und zwar subito. Das unterscheidet ihn noch nicht fundamental von anderen Bewegungen, auch der Kommunismus und besonders der Anarchismus bewirtschafteten die intensiven Gefühle. Doch im Unterschied zu ihnen ist der Faschismus eine Mischung von heftiger Bewegung und absolutem Stillstand: gleichsam ein rasender Stillstand. Der Krieg in der Ukraine wurde notwendig, weil sich in Russland seit 2012 Politik auf die Macht­erhaltung Putins reduziert hat. An den realen Verhältnissen hat sich nichts verändert.

4. Wenn zwischen Freund und (innerem) Feind im Grunde kein wesentlicher Unterschied besteht, muss er nachträglich hergestellt werden, und zwar durch einen opuskanie. Opuskanie bezeichnet im Jargon der russischen Gefängnisse die Praxis der Gruppen­vergewaltigung. Wer den Kodex verletzt, sinkt durch dieses Ritual auf die Stufe des Unberührbaren hinab. Er darf fortan sexuell missbraucht werden, muss neben der Latrine schlafen und darf nur mit anderen Unberührbaren sprechen. Für die russische Autorin Maria Stepanova ist der Ukraine­krieg ein derartiges Bestrafungs- und Erniedrigungs­ritual. Jeder Faschismus kennt opuskanie, Erniedrigungen, die die Grenze zwischen Freund und Feind rituell markieren. Es gibt keinen Faschismus ohne Gewalt und Grausamkeit. Wohl nur wenn sie vorher auf dem Abraum der Geschichte landet – was in Italien allerdings wahrscheinlich ist –, wird die Regierung Meloni nicht in Gewalt münden.

5. Gewalt muss legitimiert werden, auch faschistische Gewalt. Daraus folgt der fünfte und letzte Schritt der faschistischen Mechanik: Der Faschismus muss sich seine Geschichte neu erfinden. Sie folgt immer demselben Schema: Früher waren wir gross und mächtig, doch unsere Feinde haben sich gegen uns verschworen und uns erniedrigt. Jahr­hunderte lang waren wir die Opfer. Jetzt aber zeigt sich die einmalige Gelegenheit, zu alter Grösse zurück­zufinden und zugleich Rache für die uns angetane Schmach zu nehmen. Faschistische Gewalt sieht sich also lediglich als eine Reaktion auf viel schlimmere Gewalt.

Fazit

Weder sollten hier die psychologischen oder ökonomischen Voraussetzungen des Faschismus aufgezeigt noch sein «Wesen» beschrieben werden. Es geht mir lediglich darum, darzustellen, unter welchen Voraus­setzungen welche Schritte nötig sind, damit ein faschistisches Regime sich entfalten kann. Damit soll nicht einem historischen Determinismus das Wort geredet werden, wonach der Faschismus notwendig das letzte Stadium des schon verfaulten Kapitalismus darstellt. Es wird im Gegenteil dafür plädiert, den Faschismus an den entscheidenden Punkten politisch zu bekämpfen und nicht mit fadenscheinigen Aufklärungs- und Erziehungs­kampagnen.

Am besten dadurch, dass die Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen wird.