Populismus

Nadav Eyal reist als Journalist um die Welt, und was er beobachtet, findet er mehr als besorgniserregend: Unsere Weltordnung zerfällt, das „Zeitalter der Verantwortung“ ist vorüber, Menschen fühlen sich belogen, fürchten den sozialen Abstieg, demagogische Hetze verbreitet sich. Lesen Sie das gekürzte und redaktionell geänderte Interview von Anja Reich, der FR entnommen.

Nadav Wyal: Wir versuchen, Worte zu finden für das, was in der Welt geschieht. Oft ist die Rede vom Zeitalter des Populismus oder der Unvereinbarkeit von Technologie und menschlicher Vernunft, mir ist das zu eng gefasst. Ich denke, wir beobachten einen weltweiten Aufstand gegen etablierte Machtausübung, nicht nur in Demokratien, sondern auch in totalitären Staaten. Das bedeutet, dass es zunächst um das Zerstören geht, und insoweit handelt es sich um eine führerlose Bewegung.

Führerlos? Was ist mit Donald Trump?

Ich denke, Donald Trump repräsentiert eine Gruppe der Revolte, die Aufständischen. Diese Gruppe muss nicht unbedingt die Mehrheit sein, aber sie kann den Ausgang von Wahlen bestimmen.

Was ist der Unterschied zur Revolution?

Nach Trumps Wahl war immer wieder vom Oktober 1917 die Rede, aber mich erinnert es eher an Februar 1917. Der Zar wurde gestürzt, es gab eine Übergangsregierung, die Tür für radikale Kräfte war offen, die Machthaber versuchten, auf der Welle zu reiten und Strukturen zu zerstören, ohne Alternativen anzubieten. Genau das macht Trump.

Er zerstört eine Welt, in der er sehr erfolgreich war.

Ja, das erinnert an Shakespeare: Ein Mann, der in privaten Jets um die Welt fliegt, aber bei McDonald’s Burger isst, der seine Wolkenkratzer mit chinesischem Stahl gebaut hat und diesen Stahl nicht mehr ins Land lässt, der globale soziale Netzwerke wie Twitter nutzt und die Globalisierung abschaffen will.

Sie beschreiben den Ablauf der Revolte in drei Akten. Welcher war der erste?

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, das Zeitalter der Verantwortung.

Das ist genau die Formulierung, die Israels Staatspräsident Reuven Rivlin in seiner Yad-Vashem-Rede benutzt hat.

Ja, er hat sie von mir übernommen, sein Büro hat mich angerufen und gesagt: Wir zitieren Ihr Buch mit dieser Formulierung: Zeitalter der Verantwortung. Als Rivlin jetzt nach Deutschland gereist ist, hat er mein Buch mitgenommen, um es Ihrem Bundespräsidenten zu geben.

Wie sind Sie auf diese Formulierung gekommen?

Ich habe versucht, diese Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen und fragte mich, was die Staatsführer damals ausgemacht hat. Ob Adenauer oder Mitterrand. Ob Thatcher oder Ben-Gurion. Sie waren sich der Geschichte bewußt, denn sie alle hatten zwei Kriege erlebt und handelten verantwortlich.

Lügen Journalisten?

Sie lügen nicht mit Absicht, meistens zumindest. Ein Beispiel: Ein Politiker hält eine Rede. Journalisten berichten, was daran neu und interessant ist, machen daraus einen Text und eine Schlagzeile. Andere aber haben eine ganz andere Wahrnehmung. Sie finden, der Politiker hat vielleicht am Ende etwas Schlimmes gesagt, aber am Anfang auch etwas Gutes. Die Journalisten aber greifen nur das eine heraus und reißen es aus dem Zusammenhang.

Wie gefährlich ist diese Entwicklung?

Die Entschiedenheit, mit der Menschen einen rationalen Diskurs ablehnen, und der Hass, der sich daraus entwickelt, das ist sehr gefährlich. Wenn wir rassistischen oder fundamentalistischen Ansichten eher glauben als der Wissenschaft, wenn wir also Fortschritt ablehnen, heißt das, dass wir auf die Finsternis zusteuern. Nazideutschland ist ein Beispiel für eine Gesellschaft, die Fortschritt nur als Deckmantel benutzt hat. Wenn du an Technik glaubst, aber dabei humanistische Werte nicht respektierst, dann gibt es keinen wahren Fortschritt, sondern Rassismus und Barbarei.

Was können wir tun?

Uns klar machen, dass die Revolte gerechtfertigt ist, sie annehmen und fragen, was sie bedeutet, wie es dazu kommen konnte. Es ist die schlimmste Krise, die man sich vorstellen kann. Aber Leute davon überzeugen kann man nicht mit Herablassung und Schwarzmalerei, sondern nur, indem man Fragen beantwortet. Ich habe keinen Zweifel, dass der Klimawandel stattfindet, aber seinen Leugnern muss man mit klaren, wissenschaftlichen Argumenten begegnen. Wenn man will, dass die Leute vernünftig sind, muss man auch vernünftig mit ihnen reden und nicht versuchen, sie ständig zu agitieren.

Das heißt, erst Fakten und dann Meinungen

Ja, vor allem aber mehr Antworten auf Fragen, die unausweichlich sind. Und wenn einem keine vernünftige Antwort auf eine Frage einfällt, sollte man das auch zugeben und sagen: Ich weiß die Antwort darauf im Moment nicht.

Einer der überraschendsten Sätze in Ihrem Buch ist: Trump ist erst der Anfang. Wie meinen Sie das?

Ich sage das nicht, um Leuten Angst einzujagen. Es ist einfach nur der Klang der Klaviatur. Wir hören nicht gut genug zu, wir verstehen nicht, was wirklich passiert. Weil wir immer nur darüber diskutieren, was gerade passiert. Die Welt fällt von ihren Rändern her nach innen auseinander. Wir aber sehen nur die Ränder und müssen neue Lösungen finden.

Sie beschreiben Deutschland als „das wichtigste und stabilste Bollwerk der Demokratie“. So viel hänge derzeit von Deutschland ab, schreiben Sie. Sind Sie sicher?

Ich meine das nicht als Kompliment. Ich sage nicht, dass Deutschland alles richtig macht. Ich sage nur: Wenn Deutschland mit seiner schrecklichen Geschichte und seiner Ursachenforschung nicht in der Lage ist, Rassismus und Antisemitismus zu stoppen, dann kann man die Entwicklung auch woanders nicht aufhalten. Wenn Deutschland es nicht schafft, eine Million Flüchtlinge zu integrieren, wer sonst in Europa würde es wagen? Wenn Deutschland den Niedergang der bürgerlichen Mitte nicht aufhalten kann, welche Industriemacht schafft es dann? Es ist die Ironie und gleichzeitig Hoffnung der Geschichte, dass ausgerechnet die Nation, die für das schlimmste Verbrechen der Neuzeit, die Shoa, verantwortlich ist, heute als wichtigste Stütze der Demokratie angesehen wird.