Pflegesituation

Warum bewegt die Menschen in unserem Lande die Käfighaltung von Hühnern, Masttierhaltung oder Tiertransporte mehr als die unwürdige und entmündigende Pflege alter Menschen? Warum werden zwar Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern angeprangert, aber nicht in Altenpflegeheimen? Lesen Sie den Artikel von Wolfgang Lieb, auszugsweise den NachDenkSeiten entnommen.

Lobby von Pflegeverbänden, Heimbetreibern und Pharmaindustrie
Claus Fussek (Sozialpädagoge im ambulanten Pflegedienst) und Gottlob Schober (Redaktionsteam von Report Mainz) haben in ihrem Buch “Im Netz der Pflegemafia – Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden”, die Pflegesituation in deutschen Heimen durchleuchtet und eine stark vernetzte Pflegelobby von Pflegeverbänden, Heimbetreibern und Pharmaindustrie, die von schlechter Pflege profitieren, ausgemacht. Zwar werde immer argumentiert, dass in Pflegeheimen aus Geldmangel oft keine optimale Pflege möglich sei. Die Missstände, so die Autoren, seien jedoch weitaus gravierender, denn sie werden nicht nur hingenommen, sondern teilweise werde das Leid der Menschen ganz bewusst herbeigeführt. Hilfsbedürftige  Menschen würden häufig gezielt falsch behandelt, damit sie zwangsläufig in eine höhere Pflegestufe eingruppiert werden müssten. Die dann schwer Pflegebedürftigen brächten nach der Logik der Pflegeheime mehr Geld als Menschen, deren vorher noch bestehende Fähigkeiten eigentlich gefördert werden sollten.

Pflegekräfte berichten, dass Bewohner, nur um Pflegekosten und -zeit zu sparen, auf dem Toilettenstuhl sitzen, gefüttert werden und Bettpfannen von anderen Bewohnern ohne Deckel an ihnen vorbei getragen werden, während sie essen. (siehe auch: BR-Online). Um diese menschenunwürdige Praxis nachfühlen zu können, empfehlen die Autoren Catering auf modernen Toilettenstühlen im Bundestag. Dann könnte unsere Elite noch effizienter arbeiten und obendrein könnten Toilettenzeiten mühelos rationalisiert werden. Viele Einrichtungen geben, so die Autoren, unter vier Euro für die Verpflegung der Bewohner aus, obwohl sie 3000 Euro im Monat kassieren. Da werden viele  Katzen und Hunde in unserem Lande besser versorgt.

Alternativen zum Pflegeheim werden behindert
Es gibt sicherlich auch viele gute Heime, die sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Die Autoren Fussek und Schober empfehlen älteren Menschen und ihren Angehörigen, sich umfassend beraten zu lassen, z. B. von Pflege- und Krankenkassen oder auch von Verbänden wie dem VdK. Die Mitarbeiter von Pflegeheimen fordert Fussek auf, für ihre Belange zu demonstrieren. Der VdK hat im Übrigen gegen die verfehlte Gesundheitsreform, bei der die steigenden Gesundheitskosten in Form von Zusatzbeiträgen einseitig den Arbeitnehmern und Rentnern aufgebürdet werden, die Kampagne „stoppt den Sozialabbau“ gestartet, an der sich jeder beteiligen kann. Nach Meinung von Claus Fussek muss das System Pflege grundsätzlich reformiert und für größere Transparenz gesorgt werden. Außerdem müssten die häusliche Pflege und alternative Wohnformen flächendeckend und bezahlbar ausgebaut werden. Es sei ausreichend Geld im gesamten System. Leider werde nach wie vor das meiste Geld in Pflegeheime investiert, obwohl eigentlich niemand später seinen Lebensabend in einem Pflegeheim verbringen möchte.

Die Seniorenpolitik ist eine zunehmende Herausforderung für die Kommunen. Viele ältere Menschen ziehen in Großstädte, weil dort Infrastruktur und ärztliche Versorgung oftmals besser sind als in ländlichen Gebieten. Wenn Wohnungen, insbesondere Badezimmer barrierefrei wären, eine Infrastruktur (Ärzte und Geschäfte) am Wohnort vorhanden wäre, könnten viele Menschen, auch im Alter, in ihrer angestammten Wohnung bleiben. Hausgemeinschaften für Rüstige, Betreutes Wohnen für Menschen, die in der Regel selbstständig sind und nur im Bedarfsfall Zusatzleistungen benötigen, Mehrgenerationenprojekte und Tageseinrichtungen, wären sicher eine kostengünstige und qualitativ bessere Alternative zu Pflegeheimen. Jedoch scheitern solche Einrichtungen oftmals an bürokratische Hürden, so wenn beispielsweise ein Extraraum für Pfleger, übertriebene Auflagen für die Gemeinschaftsküche oder ein Extraeingang für Pfleger, die nicht den gleichen Eingang wie die Bewohner benutzen dürfen, von Ämtern gefordert werden.

Kann Pflege jeder?
Weiterhin ist die Umschulung von Arbeitslosen und HartzIV-Empfängern zu Altenpflegern im Gespräch. Das diskriminiert nicht nur die Ausbildung zum Pflegeberuf sondern Ignoriert die Tatsache, dass, wer diesen Beruf erlernt, gewisse Voraussetzungen mitbringen muss, wie z.B. Geduld, Empathie und einen gewissen Grad an Abgrenzungsvermögen. Nicht jeder x-beliebige Mensch ist fähig und geeignet, diesen Beruf auszuüben. Dass dies aber dennoch von politischer Seite gefordert wird, zeigt auch, wie wenig Wissen und wie wenig Respekt über diesen Beruf und die Menschen, die ihn ausüben, vorhanden ist und dass es anscheinend egal ist, welche Personengruppe diese Arbeit ausführt. Wer möchte schon gern von einem unmotivierten und in die Tätigkeit gezwungenen Altenpfleger versorgt werden?

Dabei sind motivierte, qualifizierte Mitarbeiter und zufriedene Bewohner die Basis einer menschenwürdigen Altenpflege. Dazu gehört ebenso eine leistungsgerechte Bezahlung wie ein 8-Stunden-Tag für die Pflegekräfte. Betriebswirtschaftliche Übertreibungen und vor allem das Renditedenken haben in der Alten- und Behindertenpflege nichts verloren, denn beides geht einher mit dem Verlust menschlicher Würde und fairer Entlohnung.

Kann ein Pflege-TÜV Pflegequalität schaffen?
Hier also gibt es ein riesiges Verbesserungspotential für Röslers angekündigten neuen Pflege-TÜV. Aber die Kriterien nach welchen geprüft wird, sind höchst fragwürdig. Es ist halt wie immer, wenn quantitative Kriterien (womöglich noch ungewichtet) als Maßstab für Qualität herangezogen werden. Wenn also überspitzt gesagt, die Lesbarkeit der Speisekarte genauso eingestuft wird wie die Vermeidung von Dekubitusgeschwüren, dann müssen die Bewertungskriterien dringend geändert werden. Es geht, so Claus Fussek, nachweislich auch anders. Gute Pflege sei machbar und bezahlbar. In Schweden zum Beispiel schafften es die Kommunen sehr erfolgreich den Rahmen für praxisgerechte und menschenwürdige Altenpflege abzustecken. Dort gründe sich das Gesundheits- und Krankenpflegesystem auf den Grundsatz, dass die Zurverfügungstellung und Finanzierung der Gesundheits- und Krankenpflege eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Hände ist. Die wichtigsten dieser Grundsätze fänden sich im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz von 1982, in dem bestimmt wird, dass der Bevölkerung eine gute Gesundheits- und Krankenpflege angeboten werden soll, dass die Pflege zu gleichen Bedingungen für alle geleistet werden und dass sie leicht zugänglich sein soll. Die Pflege soll sich auf die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts und der persönlichen Integrität des Patienten gründen und soweit möglich nach gemeinsamer Beratung ausgeformt und durchgeführt werden.

Pflege, ein verdrängter Skandal
Warum bewegt die Menschen in unserem Lande die Käfighaltung von Hühnern, Masttierhaltung oder Tiertransporte mehr als die unwürdige Pflege alter Menschen? Warum werden zwar Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern angeprangert, aber Menschenrechtsverletzungen und Freiheitsberaubungen in Altenheimen kaum? Warum lässt es die Gesellschaft kalt, wenn Menschen angegurtet, aus Kosten- und Proftitgründen mit Mangensonde ernährt, mit einer 3,7l Windel versorgt, die nur einmal am Tag gewechselt wird und aktive oder unruhige Menschen mit Psychopharmaka ruhig gestellt werden? Die Vereinten Nationen haben Deutschland schon mehrfach wegen Verletzung der Menschenrechte kritisiert. Die Kritik bezog sich auf Diskriminierung, auf rechtsextreme Delikte oder mangelnde Umsetzung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Was würden die Vereinten Nationen wohl zur Verletzung der Menschenrechte in vielen deutschen Pflegeheimen sagen?

Die Zustände dort sind vielerorts ein Skandal und eine Schande für ein reiches Land wie Deutschland! Damit sich die Situation ändern kann, darf in diesem Land die Pflege nicht länger verdrängt werden, sondern es muss sich eine Mentalität des Hinsehens entwickeln und eine Wahrnehmung dahingehend, dass jeder Mensch selbst jeden Tag in die Situation einer Pflegebedürftigkeit geraten kann. Niemand besitzt einen Garantieschein für ein gesundes, langes und selbstständiges Leben. Das Thema Pflege geht jede und jeden an. Nur wenn unsere Gesellschaft dieses Thema nicht mehr verdrängt, sondern aktiv eine menschenwürdige Pflege einfordert, die nicht profitgesteuert ist und nicht von Lobbyinteressen der Pflegewirtschaft bestimmt ist, sondern wenn mehr Bürgerinnen und Bürger für ein Pflegesystem eintreten, in welchem Qualität, Gepflegte und Pfleger im Mittelpunkt stehen, haben wir eine Chance, dass sich das bestehende System ändert.  Ein Pflege-TÜV in Altenheimen ist mehr als überfällig.

Es ist aber nach den bisherigen Erfahrungen etwa in der Gesundheitsreform zu befürchten, dass ein Pflege-TÜV nach den Vorstellungen der FDP eher an den Interessen der Pflegeimmobilienbetreiber, der Pflegeheiminvestoren und der Pflegelobby ausgerichtet ist als daran, die Missstände in den Pflegeheimen zu beheben. Die spannende Frage ist also wieder einmal, wessen Interessen Rösler pflegt.

Dazu Art. 1 des Grundgesetzes:

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum(!) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.


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