Parallelen

Der erstmals demokratische Staat nach dem 1.Weltkrieg konnte sich nicht entscheidend gegen die Radikalisierung seiner Gegner wehren, die diese Demokratie ablehnten und sie gewaltsam beenden wollten, so der Historiker Volker Ullrich. Und doch wäre die NS-Diktatur vermeidbar gewesen. Welche Parallelen es gibt, entnehmen Sie der redaktionell geänderten Rezension von Florian Keisinger, der SZ entnommen.

Für den Historiker Reinhart Koselleck war die Geschichte vordergründig eine schlechte Lehrerin. Er begründete seine damalige Auffassung mit der Beschleunigung des Wandels seit der Neuzeit, welcher von Generation zu Generation grundlegend neue Begebenheiten geschaffen habe. Gemeinsame Erfahrungen und historische Stetigkeit seien nicht mehr existent. Gleichwohl lag es Koselleck fern, der Geschichte ihren Nutzen für die Gegenwart und Zukunft abzusprechen. Doch müssten die Bedingungen einer geschichtlichen Epoche gezielt aufgearbeitet werden. Nur so ließen sich Erkenntnisse gewinnen, die für die Gegenwart von Nutzen sind.

 

In seinem Buch „Schicksalsstunden einer Demokratie“ des Historikers Volker Ullrich sind solche Erkenntnisse für der Zeit nach 1918 vorhanden, die auf die aktuelle politische Situation in Deutschland angewendet werden können. Es handelt sich dabei um ausgewählten Ereignisse und Entwicklungen, welche in der Rückschau als Höhepunkte des Geschehens verstanden werden können, auch wenn dies den Zeitgenossen in den meisten Fällen nicht bewusst war. Und in deren Verlauf die Weichen der Geschichte auch anders hätten gestellt werden können, womöglich sogar so, dass die Katastrophe des Jahres 1933 abwendbar gewesen wäre.

Einige Beispiele, keine Gesamtgeschichte

Insgesamt sind es zehn Beispiele, von denen Ulrich eingige näher betrachtet. Sie fallen, wenig überraschend, fast allesamt in die beiden Krisenphasen der Weimarer Republik, also in die Zeitspanne zwischen Kriegsende und Revolution 1918/19 und Hyperinflation 1923, sowie vom Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 bis zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Januar 1933.

Einzige Ausnahme ist die Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 in Nachfolge des verstorbenen Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Für Ullrich ein Rechtsruck, der vermeidbar gewesen wäre, hätte sich die Linke im zweiten Wahlgang auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigt.1

Im Unvermögen und Unwillen der moderaten und linken demokratischen Kräfte zur Zusammenarbeit erkennt Ullrich ein Grundproblem der Zeit, das maßgeblich zur Radikalisierung von Parteien und Gesellschaft von den späten 1920er-Jahren an beigetragen habe. Exemplarisch nennt er das „Modell Thüringen“, wo 1930 die NSDAP erstmalig in eine Landesregierung einzog, befördert von bürgerlich-konservativen Kräften, die dem Irrglauben aufsaßen, den Radikalismus und ideologischen Fanatismus der Nazis politisch begrenzen zu können. Eine Fehleinschätzung, die sich im Januar 1933 in verhängnisvoller Weise wiederholte.

Verfehlte Weichenstellungen

Verfehlte Weichenstellungen verortet Ullrich in der Frühphase der Weimarer Republik. In der Verwaltung und bei den Beamten habe man auf Kontinuität statt Wandel gesetzt. Und die militärische Oberste Heeresleitung (OHL) sei umgehend wieder zu einem wichtigen Machtfaktor avanciert, auch deshalb, weil man in demokratischen Kreisen den Versprechen der alten Eliten, das neue System mitzutragen, mit allzu großer „Vertrauensseligkeit“ begegnete. Bei stärkerem Gestaltungswillen allen voran der Sozialdemokratie, so Ullrichs Fazit in Anlehnung an ein Verdikt von Heinrich August Winkler, hätte man nach 1918 sehr viel mehr verändern können; so hingegen seien die Republikfeinde in zentralen Machtpositionen verblieben, von wo aus sie fortan ihre Angriffe auf die Demokratie ausführten.

Kein Generalstreik nach dem „Preußenschlag“

Wie gering die Widerstände waren, auf die sie dabei trafen, verdeutlicht Ullrich anhand des Kapp-Lüttwitz-Putsches 1920, als Teile der Reichswehr die junge Republik an den Rand des Untergangs brachten. Erst ein noch nie da gewesener Generalstreik der Arbeiterschaft zwang die aufständischen Militärs in die Knie. Ein Instrument, dessen Anwendung sich Ullrich auch zwölf Jahre später gewünscht hätte, als beim „Preußenschlag“ die dortige sozialdemokratisch geführte Regierung illegal ihres Amtes enthoben und durch Franz von Papen als Reichskommissar ersetzt wurde. Wie beim rechtsradikalen politischen Terror in der Frühphase der Weimarer Republik, von Ullrich dargelegt anhand der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau 1922 durch Mitglieder der „Organisation Consul“, trafen die Täter auf eine nachsichtige Justiz. Ihr Strafmaß fiel durchweg gering aus, sofern sie nicht ganz freigesprochen wurden. Ullrich erachtet die laxen Reaktionen der Republik auf die gegen sie gerichteten Angriffe gleich in doppelter Hinsicht als verheerend, beförderten sie doch sowohl den Rechtsruck im Bürgertum als auch die Radikalisierung der Arbeiterschaft nach links.

Endgültige Beseitigung der Demokratie

Dass die Nazis im Januar 1933 die Macht nicht an sich gerissen haben, sondern sie ihnen zugetragen wurde, ist Konsens. Doch war auch dieser Schlusspunkt der ersten deutschen Demokratie für Ullrich nicht alternativlos. Hätte Hindenburg Kurt von Schleicher nur einige Monate länger als Reichskanzler im Amt belassen, wäre die sich abzeichnende wirtschaftliche Erholung womöglich der Republik zugute gekommen. So jedoch war es zu spät: Binnen fünf Monaten und mit einer zuvor von der Demokratie nie gezeigten Entschlossenheit beseitigten die Nazis das Institutionengebäude des morschen Staates. Mit dem „Röhm-Putsch“ am 30.Juni, der in Wahrheit ein NS-Terrorakt war, beseitigten (!) sie ihre letzten verbliebenen Widersacher und stellten die Weichen auf Diktatur.

 

1Reichspräsidentenwahl 1925

Im Alter von erst 54 Jahren war Reichspräsident Friedrich Ebert am 28. Februar 1925 verstorben – er hatte eine Blinddarmentzündung verschleppt. Neuer Reichspräsident wurde der monarchisch gesinnte Paul von Hindenburg.

Erster Wahlgang: Karl Jarres führt

Beim ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl am 29. März 1925 hatte keiner der acht Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht. Die meisten Stimmen (38,8 Prozent) erhielt Karl Jarres, der für die DVP antrat, gefolgt von Otto Braun (SPD) und Wilhelm Marx (Zentrum).

Die rechten Parteien drängten Hindenburg, sich für die Wahl aufstellen zu lassen, obwohl dieser schon 77 Jahre alt war. Sie sahen, dass Karl Jarres keine Chance hätte, die Wahl gegen Wilhelm Marx zu gewinnen, der nun von den bürgerlichen Parteien als gemeinsamer Kandidat aufgestellt wurde. Das Wahlgesetz erlaubte es, Kandidaten aufzustellen, die im ersten Wahlgang gar nicht angetreten waren.

Zweiter Wahlgang: Hindenburg wird Reichspräsident

Am 26. April wurde Hindenburg im zweiten Wahlgang zum neuen Reichspräsidenten gewählt. Gegen ihn angetreten waren Wilhelm Marx und Ernst Thälmann. Marx stand für den bürgerlichen und republiktreuen Block (auch Volksblock genannt), Ernst Thälmann trat als kaum aussichtsreicher Kandidat und Außenseiter für die Kommunisten an. Hindenburg erhielt 48,3 Prozent der Stimmen, Wilhelm Marx 45,3 Prozent, Thälmann 6,4 Prozent.

Ein gemeinsamer Kandidat des republikanischen Lagers hätte die Wahl Hindenburgs und alle weiteren Konsequenzen verhindern können.

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