NSU-Morde

Der NSU-Prozess ist eine der größten juristischen Anstrengungen der deutschen Geschichte. Die Autorin und Regisseurin Christiane Mudra zieht Bilanz: Die Chance einer echten Aufklärung und Aufarbeitung wurde vertan. Lesen Sie die schier unglaublichen Begleitumstände dieses Prozesses, dem Deutschlandfunk entnommen.

Der NSU-Prozess ist mit der Verurteilung von Crate Zschäpe wegen zehnfachen Mordes beendet worden. Nach einem mehr als fünfjährigen Ringen um die Wahrheit hängt bleierne Müdigkeit im Saal A 101 des Münchner Oberlandesgerichts. Auch über uns, die wir das Verfahren verfolgten. In den fast 440 Verhandlungstagen konnten wir in einen Abgrund blicken:

Da hieß es „Negerfahrzeug“ in einem Polizeivermerk. Da wurde bekannt, dass sich Polizeibeamte im Ku-Klux-Klan organisiert hatten. Da logen dreist grinsende Neonazis, dass sich die Balken bogen und verhöhnten den Prozess. Da war der Verfassungsschützer, der sich zur Tatzeit am Kasseler NSU-Tatort befunden hatte und bei dem man später Waffen und rechtsextreme Schriften fand. Mit Schweißperlen im Stiernacken und gehetztem Blick beharrte er darauf, nichts gehört und nichts gesehen zu haben.

Konsequenzen hatte all das nicht.

 

Dreiste Lügen, umfangreiche Aktenvernichtung

Exemplarisch für die beklemmende Aufklärungsblockade war etwa ein Verfassungsschützer aus Brandenburg, Typus Schreibtischtäter. Er klammerte sich an einen Aktenordner, den er dem Richter nicht aushändigen wollte. In besagtem Ordner befanden sich dienstliche Anweisungen dazu, wie er kritische Fragen der Nebenklagevertreter beantworten sollte.

Diese Szene ist sinnbildlich. Denn mit dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 erfolgte die wohl umfangreichste Aktenvernichtung im Bundesamt und in zahlreichen Landesämtern für Verfassungsschutz, die es während laufender Ermittlungen je gab.

Konsequenzen hatte auch das nicht.

Die Angeklagte Beate Zschäpe sitzt am 12.09.2017 im Gerichtssaal im Oberlandesgericht in München (Bayern) neben ihrem Anwalt Mathias Grasel. (dpa-Bildfunk / Pool / Matthias Schrader)Die Angeklagte Beate Zschäpe sitzt am 12.09.2017 im Gerichtssaal im Oberlandesgericht in München (Bayern) neben ihrem Anwalt Mathias Grasel. (dpa-Bildfunk / Pool / Matthias Schrader)

Während der Nebenklageplädoyers flossen auch auf der Zuschauertribüne Tränen. Denn in diesen Momenten war der Schmerz der Hinterbliebenen plötzlich lebendig und spätestens hier war klar, dass es die erhoffte Katharsis nach jenem November 2011 nicht gegeben hat.

Die Bundesanwaltschaft hatte die Anklageschrift auf die Spitze eines ansatzweise zu erahnenden Eisbergs begrenzt. Der Prozess hatte somit einzig die Aufgabe, über die Schuld der fünf Angeklagten zu befinden.

 

Die Straftaten der V-Leute sind künftig erlaubt

Viele werden sagen, mit dem bevorstehenden Urteil sei endlich alles in Ordnung, der Rechtsfriede wiederhergestellt. Nichts ist in Ordnung. Denn der Komplex NSU ist außen vor geblieben. Die Vorgänge in den Sicherheitsbehörden sind nicht aufgearbeitet. Das Terrornetzwerk ist nicht ermittelt.

Heute wissen wir, dass der NSU von V-Männern umstellt war, die vielfach als Brandstifter fungierten. Bis zuletzt wurden Gericht und Untersuchungsausschüsse von den Verfassungsschutzbehörden belogen, ihre Mitarbeiter und V-Männer vor Strafverfolgung geschützt.

Die Ermittlungsverfahren gegen neun weitere Beschuldigte drohen in die Verjährung getrieben zu werden. Bis heute gibt es keine ernsthaften Präventivmaßnahmen.

Stattdessen wurde der Bock zum Gärtner: Die Befugnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz wurden erweitert, V-Männern sind Straftaten jetzt explizit erlaubt. Das ist bitterster Zynismus und erinnert an den Patienten, der die Dosis eines unwirksamen Medikaments mit schwersten Nebenwirkungen immer weiter erhöht.

 

Eine fatale Verengung des juristischen Blickes

Mit dem Entsetzen vom November 2011 gab es die einmalige Chance auf einen entschiedenen, zukunftsweisenden Bruch mit menschenverachtenden Traditionslinien und einem althergebrachten Korpsgeist in den Sicherheitsbehörden.

Es war eine politische Entscheidung, den Blick zu verengen. Sie war fatal. Sie hat Rechtsextremisten ermutigt. Sie hat die Beamten geschützt, die mitverantwortlich dafür sind, dass der NSU 13 Jahre lang unbehelligt morden konnte. Sie wurde ein zweites Trauma für die Hinterbliebenen.

Es mag die Ironie des Schicksals sein, dass parallel zum NSU-Prozess der Aufstieg der Rechtspopulisten und die Entfesselung neuer Gewalt begann.

Ja, dieses Urteil ist ein erster Schritt. Doch ohne weitere Strafprozesse und ohne eine Revision der Sicherheitsarchitektur ist es nur eine Frage der Zeit bis der verbliebene Eisberg neue Terrorzellen gebärt.

 

Christiane Mudra (München/Berlin) ist Autorin, Regisseurin und Journalistin. Seit 2013 recherchiert sie schwerpunktmäßig zum NSU, zu Rechtsextremismus sowie zur Rolle der Nachrichtendienste. Als Journalistin berichtete sie u.a. aus dem Münchner NSU-Prozess und dem Untersuchungsausschuss im Bundestag. Als Autorin und Regisseurin realisierte sie recherchebasierte Theaterarbeiten zum Syrienkonflikt, zu rechtswidriger Überwachung und zu Rechtsterrorismus. 2017 inszenierte sie in Brasilien ein Stück zur Militärdiktatur. 2018 veröffentlichte sie mit Hajo Funke die AfD-Analyse „Gäriger Haufen“.

 

Anmerkungen

Leider geht es nicht nur um mögliche neue Terrorzellen, die Frau Mudra befürchtet. Vielmehr geht es insgesamt um die rechtsstaatliche Ordnung, die auch gegen den alltäglichen Rassismus verteidigt werden muss, der längst in der bürgerlichen Mitte angekommen ist: Die AfD als Nazi-Partei wird als demokratische Partei bezeichnet und ihr menschenverachtendes Vokabular auch von Journalisten verwendet, wenn auch mit der Attitüde der Ablehnung. Vollends entsetzt bin ich über die Juristen, die sich prostituieren, indem sie mit Mördern gemeinsame Sache machen. So wird der Mörder zum Opfer und die Lüge zur Wahrheit.

Als Demokrat unterstütze ich ausdrücklich die Positionen von Frau Mudra und hoffe darauf, dass Viele es mir gleichtun.

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