Massenmord der SS

Soldaten der Waffen-SS ermordeten vor 75 Jahren in Sant ‚Anna di Stazzema Hunderte Zivilisten = Kinder, Jugendliche, Frauen. Einer der Täter lebt in Hamburg. Zur verantwortung gezogen wurde er nie. Lesen Sie den redaktionell geänderten Beitrag von Michael Göring, dem HA entnommen.

Zum 75. Mal jährt sich in diesen Tagen das Massaker von Sant‘Anna di Stazzema, einem kleinen Bergdorf in der nördlichen Toskana. Es gehört zu den besonders grausamen Vergehen an der Zivilbevölkerung, das jahrzehntelang verborgen war und bis heute strafrechtlich in Deutschland ungesühnt geblieben ist. Nur einer der Täter lebt noch: 97-jährig und schwer dement wohnt er in einem Hamburger Seniorenheim.

Im Roman „Vor der Wand“ (Auszüge in diesem Text in kursiv) wird das Geschehen geschildert. Georg Mertens, die Hauptfigur des Romans, findet die Aufzeichnungen seines Vaters und erfährt so, was Walter Mertens 1944 in Italien getan und worüber er nie mit dem Sohn gesprochen hat:

12. August 1944

Für uns ging es geradewegs runter in Richtung Sant’Anna di Stazzema. Langsam und still zogen wir bergab. So gegen halb fünf erreichten wir eine Stelle, von der aus wir einen der ersten Hochland-Berghöfe erblickten. Noch hatte kein Hund angeschlagen. Westenberg hieß mich und zwei Kameraden sowie einen der Italiener unter Führung von Horst Kampe eine halbe Stunde warten. Alle anderen würden mit ihm weiter Richtung Dorf gehen. Wir aber sollten nach Verstreichen der halben Stunde das Hofgebäude stürmen, die Partisanen gefangen nehmen und mit ins Dorf bringen. Kampe lachte nur. [„Vor der Wand“, S. 199]

Die Situation der deutschen Wehrmacht und der SS hatte sich im August 1944 weiter verschlechtert. Die Amerikaner rückten in Italien von Süden vor, und die Partisanen wurden immer verwegener. Als die Waffen-SS am 12. August 1944 auf Sant‘Anna vorstieß, hatten sich die Männer des Dorfes in einem Steinbruch versteckt. Sie hatten ihren Frauen, Kindern und Eltern versichert, dass die Deutschen ihnen nichts tun würden, wenn sie keine Männer fänden, die sie als Zwangsarbeiter nach Deutschland schicken oder in Vergeltung eines Anschlags von italienischen Partisanen erschießen könnten. Weit gefehlt!

Wir erreichten das Haus, einer von uns erschoss den Hund, der uns entgegenkam. Die Haustür war nicht verschlossen. Ich war vom Laufen ganz außer Atem, stand jetzt in der engen Diele, hörte Stimmen, Kinderstimmen. Kampe stieg in großen Schritten die Treppe ins erste Stockwerk hinauf, einer von uns stürmte hinterher, ich ging in die Küche, unser italienischer Führer war nicht mehr zu sehen, es stand eine Lampe auf dem Tisch, ich zündete sie an, auf einer Couch lag eine alte Frau, die mühsam aufstand, erst brabbelte sie, dann schien sie zu beten, von oben hörte ich Krach, Geschrei, Kampes Brüllen, da stiegen schon ein alter Mann und eine alte Frau die Treppe herab, ich hielt die Pistole im Anschlag, beide waren im Nachthemd, der Mann hatte die Arme erhoben, ein kleiner Junge folgte, weinte, eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm kam langsam die Treppe herab, ein Mädchen folgte, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, ganz schlaftrunken torkelte es die Stufen herunter, die alte Frau aus der Küche schloss sich ihnen an, nahm das Mädchen an die Hand, Kampe trieb sie alle in den Raum neben der Küche, in den nur wenig Licht fiel.

Er schrie die ganze Zeit, wo denn die Männer wären, die Partisanen, die Banden, er fuchtelte mit dem Gewehr, ich hatte noch immer die Pistole im Anschlag, hatte Angst, von irgendwoher im Haus oder durch ein Fenster käme jeden Moment ein Partisan, der Mann der jungen Frau, der Sohn des alten Ehepaares, und würde schießen, würde uns abknallen. Einer von uns trug jetzt die Lampe in die Wohnstube, da sah ich in die völlig verängstigten Gesichter, sah die Todesangst in den Augen der jungen Frau, die ihr Baby umschlungen hielt.

Nun trieb Kampe sie alle aus der Stube heraus, ,raus vor die Wand, vor die Wand‘, schrie er, und sie ahnten wohl, was er meinte, liefen zur Tür hinaus, nach rechts am Fenster vorbei, wir dicht hinter ihnen, um die Ecke des Hauses herum, und dann standen sie vor der Wand, einer steinernen Hauswand ohne Fenster, die Kinder schrien, die vier Erwachsenen stimmten ein Lied an, ein Kirchenlied und Kampe rief ,Feuer, Feuer‘ und schoss. Er sah mich und meine beiden Kameraden an mit diesen brennenden Augen und schrie: ,Schieß, Mertens, schieß doch endlich, die steh’n doch schon vor der Wand.‘ Und ich nahm die Pistole und schoss, ich schoss, ich schoss!« [„Vor der Wand“, S. 199 ff.]

Über 500 Opfer

Vorsichtige Schätzungen sprechen von knapp 400, andere von 530 Opfern. 150 davon waren Kinder und Jugendliche, die am 12. August abgeschlachtet wurden. Fünf Kinder haben das Massaker überlebt. 2007 stand der Verfasser dieses Artikels zum ersten Mal vor der steinernen Wand in Sant’Anna, die die Namen der Opfer trägt und Titel des Romans wurde, aus dem hier zitiert wird.

Auf dem Kirchplatz waren wohl hundertfünfzig oder zweihundert Menschen zusammengekommen. Einige SS-Männer und ein paar Wehrmachtkameraden stellten auf einer kleinen Anhöhe drei oder vier Maschinengewehre auf. [….] Da wies Kampe auf mich, machte mir ein Zeichen, mein Maschinengewehr ebenfalls vorzubereiten. Ich befestigte das MG, ein neues MG 42, auf der Zweibeinstütze und sah in diesem Moment, wie der Pfarrer des Ortes mit ein paar anderen Männern aus der kleinen Kirche kam. Es waren in der Zwischenzeit noch mehr Dorfbewohner vor die Kirche getrieben worden, wo der Pfarrer nun von einer Gruppe zur nächsten ging, Einzelnen gut zusprach, dann die Arme hob. […] Die SS-Scharführer wurden ungeduldig, sie trieben uns an. Doch noch gab es keinen Befehl.

Dann gab Galler das Funkgerät aus der Hand und nickte. Die Menschen auf dem Kirchplatz vor uns hatten jetzt ein Kirchenlied angestimmt. Wieder war es die tiefe Stimme des Pfarrers, die über den ganzen Platz schallte. Galler rief laut in die Menge: ,Wo sind die Partisanen, wo habt ihr diese Schweine versteckt?‘ Die Maskierten übersetzten. Die Menschen auf dem Platz sangen weiter, umarmten die Kinder, sangen und beteten. Westenberg, Kampe und die anderen SS-Chargen riefen jetzt hektisch ,los, los!‘ Dann fielen die ersten Schüsse. Sie trafen den Pfarrer. Dann kamen die nächsten Schüsse, ich stand neben meinem Gewehr, irgendeiner schrie ,Mertens, das sind doch alles Kollaborateure‘, doch ich stand da, schaute auf die Menschen vor mir, zweihundert, vielleicht sogar mehr als zweihundert Menschen, die Maschinengewehre der Kameraden gingen los, ich sah die Ersten stürzen, hörte die Todesschreie, […] [„Vor der Wand“, S. 206 f.]

Lebenslänglich für 10 frühere SS =Männer

Das Verbrechen an den Frauen, Kindern und Senioren von Sant‘Anna, so grundlos und ziellos es war, wurde erstaunlicherweise nach dem Zweiten Weltkrieg erst sehr spät zur Anklage gebracht. 1994 entdeckte man die Akten über das Geschehen in einem Schrank in Rom, der jahrzehntelang mit der Tür zur Mauer gestanden hatte! 2004 kam es dann endlich zur Anklage. Das Militärgericht von La Spezia verurteilte im Juni 2005 zehn damals noch lebende frühere SS-An­gehörige zu lebenslänglich und setzte Entschädigungszahlungen von rund 100 Millionen Euro fest. Das Urteil hatte für die zehn früheren SS-Männer allerdings keine Auswirkungen. Da alle in Deutschland lebten, einer davon, Gerhard Sommer, in Hamburg, wurden sie nicht nach Italien ausgeliefert. Die Entschädigungszahlung wurde nicht bedient. Dabei hatte auch die Staatsanwaltschaft in Stuttgart gegen die in Italien Verurteilten eigene Ermittlungen aufgenommen. Sie stellte diese 2012 ein. Nur im Fall Gerhard Sommer gingen die Ermittlungen noch bis 2015 weiter, als die Staatsanwaltschaft Hamburg das Verfahren endgültig mit Verweis auf die schwere Demenz Sommers einstellte.

Wie konnte ein solches Kriegsverbrechen ungesühnt bleiben?

Die Erklärung ist einfach. Die Taten der SS-Männer erfüllen laut einem Gesetz aus dem Jahr 1968 nicht die Kriterien des Mordes, sondern lediglich die des Totschlags. Und während Mord nicht verjährt, verjährt Totschlag nach 20 Jahren. Dieses Gesetz mit dem offiziell so harmlos klingenden Namen „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz (EGOWiG)“ hat der beamtete Jurist Dr. Eduard Dreher 1968 entworfen, und der Deutsche Bundestag hat es im selben Jahr beschlossen. Dreher war Nazi-Richter gewesen, bekannt für seine drakonischen Strafen. Er hatte nach dem Krieg sehr schnell den Weg als Beamter ins Bundesjustizministerium gefunden. Nach der Verkündung des EGOWiG war Dreher der Dank von Zigtausenden ehemaligen Nazi-Tätern gewiss.

Wie geht man mit solch einem ungesühnten Verbrechen um?

Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck hat sich 2013 für Deutschland in Sant‘Anna entschuldigt. Ein Musiker­ehepaar aus Essen hatte zuvor Geld für den Bau der Friedensorgel in der Kirche von Sant‘Anna zusammengetragen, die „Zeit“-Stiftung hat bei der Finanzierung des Kulturprogramms geholfen. Die italienische Seite hat bereits in den 1990er-Jahren eine Gedenkstätte errichtet, auf einem Kreuzweg geht man zum Mahnmal hinauf, das auf einer Anhöhe oberhalb des Dorfes steht.

Ich betätigte den Abzug für Dauerfeuer und schoss, die ganze Ladung lief durch, und ich hörte die Schreie und die Schüsse, und ich sah den Nebel vor mir, hinter dem alles verschwand. Ein ganzer Munitionsgurt, Schuss für Schuss, alles automatisch, in Sekundenschnelle, wobei ich das MG ein wenig nach links drehte, ein wenig nach oben zog, bevor der Rechtsdrall es von allein wieder in die Ausgangsstellung zurückschwenkte. Ich weiß nicht mehr, wie viele Maschinengewehre im Einsatz waren. Ich weiß nur noch, dass plötzlich diese Schreie der Menschen sich zu einem einzigen Schrei verdichteten. Ein mächtiger, schrecklicher Schrei in meinem Kopf, ein Schrei vor einem ganz hellen, rötlichen Licht. Ich sah nicht, wie der Kirchplatz aussah, ich sah nur dieses helle gelbe Licht, das Feuer des brennenden Dorfes, das hinter der Kirche zum Himmel aufloderte. [„Vor der Wand“, S. 207 f.]

Was bleibt für uns heute im August 2019?

Wichtig ist, dass nicht vergessen wird, was vor 75 Jahren geschah. Das Dritte Reich war kein Vogelschiss! „Schwamm drüber“ darf es niemals geben.

Es ist damit zu rechnen, dass in diesen Tagen auch Innenminister Matteo Salvini an Sant‘Anna denken wird. Die 100 Millionen Euro aus dem Urteil von 2004 sind nie gezahlt worden. Entschädigungsforderungen für derartige Nazi-Verbrechen kommen seit Jahren mit großer Regelmäßigkeit aus Griechenland und aus Italien. Da wird man den Gedenktag nicht verstreichen lassen. Es gibt – auch das ist umstritten – keinen gültigen Rechtsanspruch, gleichwohl aber moralische Beweggründe, dass wir uns mit dem ungesühnten Zustand nicht zufriedengeben. Enrico Pieri, eines der fünf Kinder, die das Massaker überlebt haben, hat – mittlerweile 84-jährig – sein Haus in Sant‘Anna der Gemeinde vermacht. Dort soll ein „Ostello“ entstehen, eine Herberge für junge Menschen aus Deutschland und aus Italien, die in Sant‘Anna zusammenkommen sollen zu Seminaren, zu Konzerten, Proben, zu Lesungen. Hier könnten wir helfen. Vielleicht kann man auch mit deutschen Geldern die alte Bergstraße nach Sant‘Anna ertüchtigen, die kaum Platz für einen Bus hat. Wir sollten ein Zeichen setzen.

Michael Göring leitet die „Zeit“-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Er ist Autor von vier Romanen. Sein Roman „Vor der Wand“ erschien 2013 im Hamburger Osburg Verlag und ist in 3. Auflage in allen Buchhandlungen und im Internet erhältlich.

 

 

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