Kultur des Anstands

Krawalle wie in London zeigen: Ein Teil der Jugendlichen hält sich nicht mehr an die selbstverständlichen Regeln der Gemeinschaft. Sie sind aber nicht die Einzigen: Regelverstöße gibt es heute im Alltag und in der Wirtschaft. Mit fatalen Folgen. So überschreibt Irene Jung ihren Beitrag, gekürzt dem HA entnommen.

Die Grundlage einer Gesellschaft, die soziale Kultur, spielt eine enorm wichtige Rolle. Sie basiert auf einem informellen Regelwerk, was man tut und was man nicht tut. Daran richten wir weitgehend unser Verhalten aus, in allen Lebensbereichen. Wir stellen uns an, um die Busfahrkarte zu zahlen. Wir sind leise beim Betreten einer Versammlung. Wir bedanken uns für eine Auskunft. Geliehenes Geld wird selbstverständlich zurückgezahlt. Wir zerstören nicht unser eigenes Wohngebiet. Wir bemühen uns, höflich zu sein. Solche informellen Übereinkünfte sind oft bindender als geschriebene Gesetze. Wenn jemand sie grob missachtet, reagieren wir verstört und finden spontan oft keine angemessene Reaktion.

Zwar versuchen deutsche Konfliktforscher wie der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer zu beruhigen: Zustände wie in London seien bei uns nicht zu erwarten. „Das Wutniveau, der Rassismus und der Hass auf die Polizei“ seien bei uns bei Weitem nicht so ausgeprägt. Die „kritische Masse an Leuten, die nichts zu verlieren haben“, sei in deutschen Städten einfach nicht so groß wie in den Millionenmetropolen London, Los Angeles oder Paris.

Das leuchtet ein, aber Zweifel bleiben. Die Deutschen können nicht die Augen davor verschließen, dass auch hier die Zahl derer wächst, die „aus der Kultur“ fallen, denen allgemein akzeptierte soziale Übereinkünfte nichts mehr gelten.

Wie anders lässt sich erklären, dass jeden Monat in Hamburg Autos angezündet werden? Ganz normale Golfs und Opels, mal in Steilshoop, mal in Alsterdorf oder mal in Ottensen. Achtung vor Eigentum? Ist abhandengekommen.

Der Autor Hans Magnus Enzensberger hat diese Entwicklung schon 1993 in seinem Buch „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ vorausgesehen. Nicht nur in „failed states“ wie Somalia, auch in den Metropolen des Westens, den Zentren des Kapitalismus, habe der „molekulare Bürgerkrieg“ schon begonnen: Die Zahl der Verlierer, die sich vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen fühlen, steigt, sie antworten mit Vandalismus und Aggression und dem „Autismus der Gewalt“, schreibt Enzensberger. „Was dem Bürgerkrieg der Gegenwart eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Einsatz geführt wird, dass es buchstäblich um nichts geht.“

Um nichts außer dem Gefühl der Macht, wenn man einen Stein auf Polizisten wirft. Um nichts als ein paar Handys, die man aus Läden klaut. Politische Begründungen sind reine Staffage. In Wahrheit haben die Randalierer keine Inhalte, die sie vertreten. Sie haben nicht einmal einen festen Zusammenhalt. In dieser Haltlosigkeit spielen soziale Verhaltensstandards ohnehin keine Rolle mehr.

Aber solche Standards weichen auch in anderen Teilen der Gesellschaft auf. Fassungslos haben wir in der Bankenkrise lernen müssen, dass selbst Sparkassen ihren Kunden dubiose Anlageprodukte andrehten. Seit dem Mittelalter gehörte es zur Ehre eines Bankhauses, das Geld der Kunden zu mehren und zu schützen. Eine der ältesten Übereinkünfte – abhandengekommen.

Der Grundsatz „Treu und Glauben“ müsste eigentlich schon auf die Rote Liste gesetzt werden. Auch früher schon haben Menschen bei Doktorarbeiten geschummelt. Aber müssen sie das hartnäckig leugnen, nur weil sie sich als Minister für unangreifbar halten?

Im ganz normalen Alltag werden Hunderttausende von Altenheim-Bewohnern wöchentlich mit Wurfsendungen überschüttet, die ihnen – gegen eine „kleine Gebühr“ – beste Chancen in Gewinnspielen versprechen. Die Einwilligung der „lieben Kunden“ wird gar nicht abgewartet, die Gebühr einfach von ihrem Konto abgebucht. Ihre persönlichen Daten hat man sich im Handel beschafft. Datenschutz? Vertraulichkeit? „Ehrbarkeit in Handel und Wandel“? Abhandengekommen.

Wir Babyboomer wuchsen in einer Gesellschaft auf, in der es zwar Hausbesetzungen und Sit-ins und heftige Debatten gab, aber auch ein Urvertrauen in Stabilität, den freien Zugang zu Bildung, betriebliche Mitbestimmung, das Solidarprinzip bei Renten und Krankenversicherungen („Generationenvertrag“) und einen Sozialstaat, der eine soziale Ausgewogenheit herstellte. Für unsere gerade erwachsenen Kinder sieht die Lage heute anders aus.

Der Rückzug des Staates, die Verschlankung der Unternehmen und das Sparen im öffentlichen Sektor haben viele alte Übereinkünfte aufgeweicht oder abgeschafft.

Für eine ausreichende Alterssicherung legt man am besten schon mit 20 Jahren etwas Geld an. Versicherungen schrumpfen auf Grundleistungen. Gute Universitäten kosten viel Geld. Vollbeschäftigung scheint nie wieder erreichbar. Die Staatsschulden, die wir heute machen, werden unseren Kindern wenig Spielraum lassen. Und die Kosten des Klimawandels haben wir noch gar nicht in den Blick gefasst.

 

Diese Entwicklung hat Folgen für unsere Gemeinschaftskultur. Der gefühlte Staatsbürger in uns ist tief verunsichert. Die Leute reden mehr über Abstiegsängste als über ihre Aufstiegshoffnungen. Deshalb ist die Erwartung an mehr Verteilungsgerechtigkeit im Staat bei vielen Menschen gestiegen. Aber nicht ihr Vertrauen, dass er es auch tut. Die stillschweigende Übereinkunft, dass der Staat gerechte Steuern erhebt, Schulen gut ausstattet, den Bedürftigen wirksam hilft, weicht auf.

Stattdessen verbreitet sich der Eindruck:

Dieser Staat rettet Banken und Währungen, den Rest aber nur, wenn es die Konjunktur erlaubt. Wer ist hier eigentlich das Volk – der Souverän -, wenn eine einzige Rating-Agentur letztlich mehr Einfluss auf die Wirtschaft hat als Millionen Beschäftigte, die sich für ihren Job krummlegen?

 

Natürlich will niemand ein Zurück zu der hochnormativen Zeit der Fünfziger und Sechziger. Es würde auch wenig nützen, mehr Gefängnisse zu bauen und Täter schneller zu verurteilen. Großbritanniens Gefängnisse sind trotz harter Strafgesetze für Plünderer und Wiederholungstäter überfüllt mit jugendlichen Dauergästen.

Nein, der Weg ist schwieriger. Unsere Gesellschaft muss sich im Kern einig werden, welches Verhalten gut, welches gerade noch tolerierbar und welches inakzeptabel ist. Worauf Verlass sein muss und wo experimentiert werden darf. Letzten Endes geht es um das kleine Wort Anstand – im Miteinander, in der Politik, in der Wirtschaft. Auch junge perspektivlose Menschen haben das Recht, vom Staat anständig behandelt zu werden. Sie müssen dann aber auch dem Staat eine ordnende Macht zugestehen. Man kann Anstand nicht nur „ein bisschen praktizieren“. Menschlicher Anstand ist der Kern, der alles zusammenhält.

Kommentar:

Anstand ist zunächst eine individuelle Kategorie. Erst wenn er als Sammelbegriff für  Tugenden wie Toleranz, Respekt, Achtung, Rücksichtnahme von allen Personen und Institutionen  akzeptiert und gelebt wird, werden Abweichungen  von einer solchen gesellschaftlichen Norm auch in Unternehmen nicht mehr hingenommen werden können. Erst dann wird z.B.  Profitgier auf Kosten der Allgemeinheit geächtet.