Krieg der Nato

1999 bombadierte die Nato das Land Serbien. Nach dem völkerrechtswidrigen Angriff der Nato hat es keine Befriedung der serbischen Gesellschaft gegeben, sondern eine verbreitete Abneigung gegen den Westen, die mit der Symphatie für Russland korrespondiert. Lesen Sie den gekürzten und redaktionell geänderten Beitrag  von Franziska Schinderle, der Zeitung „Republik“ entnommen.

Stela Jovanović hört den Zug, wenn sie in ihrem Wohn­zimmer sitzt. Die Bahn­gleise verlaufen unweit von ihrer Wohnung, einige hundert Meter den Hügel hinunter. Mehrmals am Tag hört die 65-Jährige das Rattern auf den Schienen und den Signal­pfiff der Lokomotive. Sie sitzt in ihrer modernen Dachgeschoss­wohnung mit Blick auf Niš, die dritt­grösste Stadt Serbiens – Ölmalereien an den Wänden, Regale voller Bücher, eine Espresso­maschine – und sie zieht an ihrer E-Zigarette.

Stela Jovanović hat gute Laune, erzählt auf Englisch von einem Film­festival, das sie in der Slowakei organisiert, und stellt einen Teller mit Kuchen auf den Tisch. Sie scrollt durch ihr Facebook-Profil, um das Video ihres Enkels zu zeigen, der Schlagzeug in einer Rock­band spielt. Die ehemalige Lokal­journalistin ist seit fünf Monaten pensioniert und hat ein erfülltes Leben: Sie träumt von einem Haus in Griechenland, an ihrem Kühlschrank hängen Magnete von ihren Städte­trips in ganz Europa.

Zweimal am Tag rufen ihre erwachsenen Töchter an, die in Belgrad leben, und mehrmals pro Woche fährt sie mit dem Taxi zu ihrer alten Mutter, die von einer Pflegerin betreut wird. Über den Schicksals­tag in ihrem Leben, den 12. April 1999, fängt sie erst an zu reden, wenn man sie danach fragt.

Massaker an Albanern

Damals, vor 23 Jahren, stieg ihr Mann Radomir in den Schnellzug D 393, der die serbische Hauptstadt Belgrad mit Ristovac im Süden des Landes verbindet. Er war 45 Jahre alt, ein schlanker, fast zwei Meter grosser Mann mit dichtem, schwarzem Schnurrbart und Vater von zwei Töchtern im Teenager­alter. Es waren die orthodoxen Ostertage, das letzte Mal im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Europa blickte mit Entsetzen nach Kosovo, die Provinz im Süden des sozialistischen Jugoslawiens, in der das Regime des serbischen Präsidenten und Autokraten Slobodan Milošević Massaker an ethnischen Albanern beging.

Nachdem verschiedene Waffen­stillstands­abkommen zwischen der albanischen Befreiungs­armee UÇK und der serbischen Seite gebrochen sowie Friedens­verhandlungen gescheitert waren, begann die Nato am 24. März 1999 mit Luftschlägen auf die Bundesrepublik Jugoslawien, die von Serbien und Montenegro gebildet wurde; Kosovo war damals noch nicht unabhängig und Teil von Serbien. Während der 78 Tage dauernden Bombardements gerieten mehr als 900 militärisch-infrastrukturelle Ziele ins Visier, darunter auch eine Eisenbahn­brücke in Grdelica, Südserbien, über die am 12. April 1999 der Zug mit der Nummer D 393 rollte.

Wie viele Menschen damals auf der Brücke starben, ist bis heute umstritten. Die Frage, wie viele Zivilisten der Nato zum Opfer fielen, ist in Serbien bis heute ein Politikum. Die Regierung spricht von bis zu 2500 Menschen, allerdings ohne Belege dafür zu liefern. «Und das, obwohl renommierte Institutionen wie das Humanitarian Law Center in Belgrad seit Jahren über detaillierte Daten­banken verfügen», schreibt dazu die Osteuropa-Historikerin Elisa Satjukow in ihrem 2020 erschienen Buch «Die andere Seite der Intervention».

 Bomben auf Serbien

Es gibt viele tragische Todesfälle, bei denen Menschen zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aber diese Geschichte steht für viel grössere Fragen, die bis heute die internationale Gemeinschaft spalten. War es legitim, Menschen Leid zuzufügen, um damit noch grösseres Leid zu verhindern – konkret die Massaker in Kosovo? Können Bomben Frieden bringen? Gibt es gerechte Kriege?

Die USA, bis heute die Schutz­macht der Kosovo-Albaner, sagt: Ja, die Bombardements waren legitim, Russland hingegen sagte und sagt das genaue Gegenteil.

Die Nato-Bombardements waren eine Zäsur in den Beziehungen zwischen Russland und den USA, die einander nach Ende des Kalten Krieges zögerlich die Hände entgegen­gestreckt hatten. «In der russischen Erinnerung war der Nato-Krieg ein Angriff auf Russland – weil er zeigte, dass Russland keine Rolle mehr spielte», schreibt die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen dazu.

Die US-amerikanische Publizistin Susan Sontag sprach sogar von einem «gerechten Krieg». Der Westen hätte den «ethnischen Säuberungen» in Kosovo nicht mehr länger zusehen können.  Tatsächlich hat die damalige Weltmacht USA nicht humanitäre, sondern territoriale Interessen wahrgenommen und durchgesetzt.

In Kosovo sieht man die Bomben heute als Befreiung, in Serbien als illegalen Angriff auf einen souveränen Staat. In Moskau instrumentalisiert derweil Präsident Wladimir Putin die Bomben auf Serbien für seine eigenen Zwecke. Bevor der russische Präsident seinen Angriffs­krieg auf die Ukraine befehligte, soll er eine lange, martialische Ansprache gehalten haben. Er nannte den Westen ein «Reich der Lügen», das in Jugoslawien selbst Völkerrecht gebrochen habe.

 Serbien heute

Serbien gehört heute zu den letzten Ländern Europas, die keine Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Das liegt nicht nur an der Abhängigkeit vom russischen Gas, sondern auch an der pro­russischen Stimmung im Land. Laut einer Umfrage von 2021 sehen 54 Prozent der Serben Russland als wichtigsten Verbündeten in der Welt. Die EU landet mit nur 11 Prozent auf Platz vier, deutlich hinter China. Das zeigt: Die Bomben haben nicht nur Brücken und Gebäude nieder­gerissen, sondern auch das Vertrauen grosser Teile der Bevölkerung in den Westen erschüttert.

Der serbische Präsident Vučić nutzt die Erinnerung an die Bombardements auch, um Stimmung gegen den Westen zu machen. «Sie haben unsere Kinder getötet», sagte er vor einigen Jahren bei einer dieser Gedenkfeiern, «aber sie haben Serbien nicht getötet, weil niemand Serbien töten kann.»

Anfang April wurde Vučić mit fast 59 Prozent der Stimmen erneut zum Präsidenten gewählt. Doch sein Land, das seit zehn Jahren EU-Beitritts­kandidat ist, steckt in einem Dilemma. Brüssel fordert ein klares Bekenntnis zum Westen. Doch die Nato ist für viele in Serbien ein rotes Tuch. Wie kann man sich hinter jemanden stellen, der einen bombardiert hat?

Anmerkungen

Die Ukraine ist wie Serbien 1999 einem völkerrechtswidrigem Angriffskrieg ausgesetzt, gegen den das Land das Recht zur Verteidigung hat und demokratische Länder wie Deutschland schon im eigenen Interesse die Pflicht haben, diesem Land bei seiner Verteidigung zu helfen, ohne deswegen Kriegspartei zu werden. Es wäre aber möglich gewesen, diesen Angriffskrieg zu verhindern, wenn die USA bereit gewesen wären, mit Russland über seine Befürchtungen einer weiteren Nato-Ausdehnung zu sprechen. Bundeskanzler Scholz hat bei seinem Gespräch mit Putin darauf abgestellt und die Bereitschaft Putins erkennen können, solche Gespräche zu führen. Statt jedoch dieses positive Ergebnis zumindest zur Kenntnis zu nehmen, hat Biden dieses Ergebnis ignoriert, seine Kriegsrhetorik fortgeführt und den baldigen Angriff Russlands auf die Ukraine prophezeit. Das macht niemand, der Gespräche einem Krieg vorzieht, sonden jemand, der den Krieg will bzw. ihn provoziert.

Verhalten der USA

Was hat Biden zu seinem Verhalten veranlasst? Er möchte mit den Nato-Staaten, deren Anführer er zur Zeit ist, seinen Einflussbereich weiter ausdehnen und gleichzeitig den Russlands verringern. Dazu gehört die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Das ist für Russland auch wegen der bisherigen Ausdehnung der Nato nicht akteptabel. Wer das nicht versteht oder verstehen will und diejenigen, die dafür Verständnis haben, als „Putinversteher“ diskreditieren möchte, offenbart eine stark eingeschränkte Sicht auf die eigenen Interessen, die es auch gegen Widerstände  (gewaltsam)durchzusetzen gilt.

Platz für Kompromisse ist bei einer solchen Haltung nicht vorgesehen.

Die Interessen der USA gebieten auch die vermehrte Produktion und den Verkauf eigener Rüstungsgüter sowie den Export von LNG, zu dem das Fracking-Gas gehört, das höchst umweltschädlich aus der Erde geholt wird, um es dann u.a. in Deutschland frühestens in 2,5 Jahren über eigene Hafenterminals zu verteilen. In 2,5 Jahren wird dieses umweltschädliche Gas aber gar nicht mehr gebraucht. In dieser Zwischenzeit soll es den Gasimport aus Russland nicht mehr geben mit der irrigen Begründung, damit die russische Finanzierung des Krieges zu beenden.1

Entscheidend für die demokratische Regierung in den USA ist jedoch die innenpolitische Situation. Die Republikaner wollen den Krieg und treiben die Demokraten vor sich her. Will Biden nicht als „Lame Duck“, also als schwacher Politiker dastehen mit drohenden Niederlagen bei den bevorstehenden Wahlen, macht er sich die Positionen der Republikaner zu eigen, deren Demokratieverständnis rudimentär ist.

Diplomatie erforderlich

Ich setze darauf, dass es auch jetzt noch möglich sein muss, Gespräche zu vereinbaren und zu führen; und zwar auch zwischen Russland und der Ukraine, wenn Kompromisse akzeptiert werden.  Dazu gehört die Anerkennung der Krim als russisches Staatsgebiet, die Anerkennung der schon bestehenden Republiken Luganzk und Donezk sowie die militärische Neutralität der Ukraine, also der Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft. Der ukrainische Präsident hatte sich bereits in diesem Sinne geäußert. Dieser Kompromiss muss bald erfolgen, ihn nicht zu versuchen wäre unverzeihlich.

Militarismus ist keine Zeitenwende, sondern aller Zeiten Ende.

Rolf Aschenbeck

 

1 Auszug aus Berliner Zeitung vom 03.06,2022:

Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht vertritt in der Frage der Russland-Sanktionen wegen des Angriffes auf die Ukraine eine kontroverse, aber nicht unbegründete Position. Sie sagt, dass die Diskussion um Gas- und Öl-Embargos weder den völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine aufhalten könne, noch Russland wirtschaftlich zu schaden scheinen. Der Großteil der Welt beteilige sich ja nicht an Sanktionen. Dafür würden die Sanktionen aber den Menschen in Europa schaden und die Inflation anheizen, so Wagenknecht.

Doch schaden die Sanktionen dem russischen Oberbefehlshaber Wladimir Putin wirklich und hindern sie ihn daran, den Krieg weiterhin finanzieren zu können?

Offenbar nicht, wie zwei einflussreiche amerikanische Medien unabhängig voneinander berichten. Der US-Sender CNN schrieb neulich, zwar seien die russischen Erdgasexporte zuletzt um mehr als ein Viertel zurückgegangen, doch werde die Staatskasse der Russischen Föderation weiterhin ordentlich gefüllt – weil die Gaspreise deutlich gestiegen sind. Die Weltbank erwartet etwa für 2022 einen allgemeinen Preisanstieg bei Energie von 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Zwar geben die Bloomberg-Analysten zu, dass die Sanktionen in Russland generell schon vieles bewirkt hätten: Die Unternehmensgiganten seien aus dem Land geflohen, und die russische Wirtschaft steuere auf eine tiefe Rezession zu. „Doch Putin kann diesen Schaden vorerst ignorieren, denn seine Kassen sind überfüllt mit den Einnahmen aus Rohstoffexporten, die dank des teilweise durch den Krieg in der Ukraine getriebenen globalen Preisanstiegs lukrativer denn je geworden sind.“