Klassengesellschaft

Selbst die konservative FAZ muss feststellen, dass der ehemalige Zusammenhalt unterschiedlicher Gruppen, der insbesondere wegen der Möglichkeit des beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegs bestand, nicht mehr existent ist. Stattdessen führt der  materielle und soziale Abstieg der Mehrheit der Bevölkerung zum Klassenkampf, der auch die sogenannte Oberschicht erreichen wird.

Das gespaltene Land

Von Inge Kloepfer, FAZ.NET

20. Januar 2010. Wer etwas wissen will über die Menschen, die die Mitte der Gesellschaft bilden, muss die Eltern nach ihren Kindern fragen. Dann sprudeln sie los, schwärmen von dem Angebot an ihren Grundschulen, berichten von Lernfortschritten und Erfolgen und von den Opfern, die sie dafür bringen. Die Zeit, das Geld, die Nerven – was der Nachwuchs halt so kostet. Die Kinder aus Deutschlands Mittelschicht lernen heutzutage Chinesisch. Sie besuchen Kompositions-AGs oder üben auf ihren Instrumenten ab der dritten Klasse das Ensemble-Spiel.

Nirgends zeigt sich die neue Statusbeflissenheit von Deutschlands Mittelschicht deutlicher als in der Erziehung der Kinder. Es gibt keinen besseren Gradmesser für die Stimmungslage in einer Gesellschaft, weil sich in der Erziehung der Kinder die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste ihrer Eltern manifestieren. Und ihre Einschätzung der eigenen Lebenslage.

Gute Ausbildung allein reicht nicht

Die Menschen in der gesellschaftlichen Mitte haben Angst. Statusangst. Sie sind verunsichert. So jedenfalls lautet der soziologische Befund. „Auf der Tagesordnung vieler, die etwas zu verlieren haben, stehen nicht mehr Karriereplanung, Vorteilsnahme und Zugewinn, sondern der Kampf um Wohlstandssicherung und Klassenerhalt“, sagt der Hamburger Sozialwissenschaftler Berthold Vogel.

Bildung ist Voraussetzung, aber kein Garant für ein erfolgreiches Berufsleben. Den klassischen Industriearbeiter, der nach oben strebt, gibt es immer seltener. Viele sind auf staatliche Transfers angewiesen. Auch für Beamte hat sich vieles geändert

Deshalb setzt die Mittelschicht in der unermüdlichen Dressur ihres Nachwuchses alles daran, ihren Status in die nächste Generation hinüberzuretten. Sie weiß inzwischen aus eigener Erfahrung, dass eine gute Ausbildung die Voraussetzung für den Lebenserfolg des Nachwuchses ist, aber keinesfalls mehr dessen Garant. Das jedenfalls haben die Eltern von heute, die Babyboomer, in den vergangenen Jahren begreifen müssen. Das hat ihrem Selbstbewusstsein und Vertrauen in die Zukunft ziemlich zugesetzt.

Blick nach unten statt nach oben

Beflissen sind sie immer schon gewesen, die Facharbeiter, die öffentlich Bediensteten, die Beamten und die gesellschaftlichen Aufsteiger aus den siebziger Jahren, die in der Mitte angekommen sind. Ihr Status ist den Menschen, die zur Mitte zählen, die also nach Einkommen, Bildung und Beruf weder zu den oberen noch zu den unteren 20 Prozent gehören, seit jeher wichtig. Er ist der Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens, Handelns und ihrer Selbstwertbestimmung.

Das hat der Gesellschaft ihre Dynamik gebracht und ihren Wohlstand. Beflissen strebten sie einst nach oben. Heute aber richtet sich ihre Beflissenheit gegen einen möglichen Abstieg. Das ist das Neue. „Es sind nervöse Zeiten“, sagt Vogel auch, der in seinem Buch „Wohlstandskonflikte“ soziale Fragen behandelt, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen.

Wirft man einen Blick auf die unteren sozialen Schichten, zeigt sich ein anderes Bild. Hier gibt es kein Streben nach Statusveränderung mehr, nach Aufstieg und Wohlstandsmehrung. Glaubt man dem Institut für Demoskopie Allensbach, dann regiert am unteren Rand unserer Gesellschaft Ohnmacht und damit weitgehend die Selbstaufgabe. „Dieser Statusfatalismus ist ein Eckstein der derzeitigen Bewusstseinslage der unteren Sozialschichten“, sagt Renate Köcher, Chefin des Instituts. Nur 26 Prozent dieser Schicht denken, dass Aufstieg noch immer möglich ist.

Die Zeit des aufstiegsorientierten Arbeiters ist vorbei

Das war nicht immer so: Denn auch die unteren Gesellschaftsschichten waren einmal an der Verbesserung ihres Status interessiert und haben ganz fest an die Möglichkeit geglaubt. Das klassische Arbeitermilieu legte einst mit dem Erstarken des Nachkriegs-Deutschlands zur Wirtschaftsmacht das typisch Proletarische ab. Die einfachen Industriearbeiter strebten der Mitte der Gesellschaft zu, organisierten sich in Gewerkschaften, kämpften für höhere Einkommen und sichere Arbeitsverhältnisse. Sie setzten alles daran, dass ihre Kinder es einmal besser haben sollten. Zum Teil mit beträchtlichem Erfolg.

Doch die Zeiten sind vorbei. Das klassische aufstiegsorientierte Arbeitermilieu gibt es nicht mehr. An seine Stelle ist ein Heer von Empfängern staatlicher Transfers getreten und ein neues Dienstleistungsproletariat, das von seinen Löhnen nicht leben kann. Es hat sein Zukunftsvertrauen verloren, was sich in der Erziehung der Kinder manifestiert. Gerade einmal einem Viertel der „Unterschichtseltern“, sagt Renate Köcher, sei es wichtig, die Lesefreude ihrer Kinder zu fördern. Die Folgen für den Nachwuchs sind verheerend. Denn die Aufstiegschancen des Einzelnen würden „ganz wesentlich von der Bildung beeinflusst“, analysierte der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium die Lage unlängst in einem Gutachten. Und die Bildung hänge „mehr als in vergleichbaren Ländern von der sozialen Herkunft ab“, heißt es dort weiter. Statusfatalismus kann man der Unterschicht kaum vorwerfen, ist er offenbar ein durchaus realistischer Umgang mit den eigenen Möglichkeiten. Wer einmal unten ist, kommt eben nicht so schnell wieder hoch.

 

Die Kluft vergrößert sich

Verunsicherung in der Mitte der Gesellschaft, Selbstaufgabe am unteren Rand: Deutschlands Bevölkerung zerfällt zwischen Statusbeflissenheit und Statusfatalismus. Das große Zukunftsversprechen der ehemaligen Aufsteigergesellschaft, dass es allen immer besser gehen werde, hat seine Gültigkeit verloren. „Je stärker die Aufwärtsmobilität, desto größer der gesellschaftliche Zusammenhalt. Das ist ein soziologisches Grundgesetz“, sagt Vogel. Ein neues Zukunftsversprechen sei nicht in Sicht. Keiner wisse, wie es weitergeht.

Treiber des gesellschaftlichen Auseinanderfallens sind dabei die nervösen Mittelschichten. Im Kampf um den Statuserhalt bringen sie eine neue Dynamik in die Gesellschaft. Eine, die nicht mehr integriert, sondern spaltet, weil Statuserhalt über Abgrenzung nach unten funktioniert. Der Grund: Die Mitte musste sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten an neue Risiken gewöhnen. Sie wurde von der wirtschaftlichen Entwicklung auf der einen und vom Staat auf der anderen Seite in ihrer Sicherheit erschüttert.

Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt nimmt zu

Dafür gibt es Indikatoren: Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse, also die tariflich gesicherte unbefristete Vollzeitbeschäftigung, ist stark gesunken. Die Forscher der Bertelsmann-Stiftung beziffern den Anteil auf nurmehr 60 Prozent 2008 – anders als in anderen europäischen Ländern mit weiter sinkender Tendenz. „Der Arbeitsmarkt ist funktionsfähiger, aber auch unsicherer geworden“, sagt die Stiftung. Der große Abbau unbefristeter Vollzeitstellen hat schon in den neunziger Jahren stattgefunden – millionenfach. So ist die Erwerbsarbeit für die breite Mitte inzwischen eine Art Kampfplatz der Überlebenssicherung. Jeder, dem ungeachtet seiner Leistung aufgrund einer Unternehmensrestrukturierung der Verlust seines Arbeitsplatzes droht, wird wissen, wovon die Rede ist.

Diese Entsicherung ist auch in die öffentlichen Dienste eingezogen, den ehemaligen Hort beruflicher Stabilität, aus denen sich ein Großteil von Deutschlands Mittelklasse rekrutierte. Wohlgeordnete bürokratische Routine war gestern. Heute geht es auch hier um Restrukturierung.

Der Wohlfahrtsstaat verändert sich

Just in den Zeiten schleichend entsicherter Arbeitsverhältnisse hat sich die Politik zudem darangemacht, den Wohlfahrtsstaat zu verändern. Nach den Sozialreformen des vergangenen Jahrzehnts verspricht der Staat seinen Bürgern nicht mehr die Sicherung ihres Status mit Blick auf Arbeit, Rente und Gesundheit. Er gewährt nur noch die Grundsicherung. „Gerade für die Mittelschicht einer Gesellschaft, die etwas zu verlieren hat, wirkt das bedrohlich“, meint Vogel. „Die Mittelklassen des 20. Jahrhunderts haben über Jahre den sorgenden Sozialstaat repräsentiert. Sie haben von ihm profitiert und ihn getragen.“ Mehr noch: Sie repräsentierten den Wohlfahrtsstaat als seine Angestellten und Beauftragten in den öffentlichen Verwaltungen, in den Bildungseinrichtungen, in den Wohlfahrtsorganisationen und im Gesundheitswesen.

Der Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Gewährleistung, von der Status- zur Grundsicherung hat die Mitte aus ihrer Gemütlichkeit gerissen. Sie muss ihre Statussicherung selbst übernehmen. Und sie tut das, was man von ihr erwartet. Mit großer Beflissenheit.

Oberschicht als neue „globale Klasse“

Unangefochten von alledem bleibt nur die Oberschicht. Sie ist vom nationalstaatlichen Versprechen des Statuserhalts aufgrund ihres Wohlstands über die Jahre immer unabhängiger geworden. Und die Bindungskraft der Gesellschaft muss sie nicht interessieren, weil sie sich international an ihresgleichen orientiert. Hoch mobil, gut ausgebildet, materiell abgesichert – eine neue „globale Klasse“, wie sie der Soziologe Lord Ralf Dahrendorf nannte.

Für alle anderen gilt: Die Sehnsucht nach Statusverbesserung und der Glaube daran, dass es jeder ein Stückchen weiter nach oben schaffen kann, der Leistungsbereitschaft, Disziplin und das entsprechende Quantum Glück mitbringt, das nur dem Fleißigen auf Dauer zum Erfolg verhilft – von alledem ist nicht mehr viel übrig.

Text: F.A.S.

 

 

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