Integration

Kristin Helberg, 43, ist mit einem Syrer verheiratet und hat drei Kinder. Sie lebte sieben Jahre als einzige westliche Journalistin in Damaskus und lernte dort intensiv Leben, Kultur und Alltag kennen. Dann warf Assad sie raus. Die Politologin und Radiojournalistin lebt seither in Berlin. Lesen Sie das Interview mit Andrea Seibel, das sie der Tageszeitung „Die Welt“ gegeben hat.

Wenn Sie die Bilder aus Syrien sehen, was denken Sie dann?

Kristin Helberg: Eine Schande für die Menschheit. Seit fünf Jahren sehen wir diese Bilder, und noch immer schockieren sie nicht genug, damit man etwas tut, um den Zivilisten zu helfen.

Sie werfen dem Assad-Regime Staatsterror vor und bezeichnen das, was in Syrien passiert, als den am besten dokumentierten Völkermord in der Geschichte der Menschheit. Warum kann Assad weitermachen?

Helberg: Das ist die Frage, die sich viele Syrer stellen. Wir neigen dazu, zu sagen, dort sei alles so kompliziert. Es gäbe kein Gut und Böse, es agierten so viele verschiedene Gruppen, und alle begingen Verbrechen. Das stimmt, und dennoch müssen wir alles in einen richtigen Maßstab setzen, und da sprechen die dokumentierten Zahlen für sich: Das Assad-Regime ist für 94 Prozent der bisher getöteten Zivilisten verantwortlich, weil es über eine Luftwaffe verfügt und dadurch die meisten Menschen sterben. Warum passiert also nichts? Die USA sind kriegsmüde, die Europäer haben keine gemeinsame Außenpolitik, und Russland steht entschlossen und skrupellos an Assads Seite.

Syrien wäre der einzige Ort, an dem eine völkerrechtlich begründete, militärische Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung dringend geboten wäre. Nicht um das Regime zu stürzen, das ist Sache der Syrer, sondern um die Bombardierung von Zivilisten zu verhindern und ihre Versorgung sicherzustellen. Hier versagt die internationale Gemeinschaft. Gerade der Westen hat mit seiner Zögerlichkeit in Syrien jede Glaubwürdigkeit verloren.

Sie haben sieben Jahre in Syrien gelebt. Was war für Sie die schwerste Umstellung?

Helberg: Als Europäerin hatte ich es in Syrien leicht. Die Menschen waren offen und unglaublich hilfsbereit, ich fühlte mich als Frau alleine sicher und respektiert. Es war eine politisch spannende Zeit, weil Baschar al-Assad erst ein Jahr an der Macht war und viele sich von dem Wechsel Vater zu Sohn einiges versprachen. Ich war neugierig auf ein Land, von dem man nicht viel wusste.

Haben Sie ein Kopftuch getragen?

Helberg: (lacht) Nee. Dort können Frauen anziehen, was sie wollen. Allerdings gibt es einen Kodex, der längere und weitere Kleidungsstücke favorisiert. Die einzigen Länder mit Kleidervorschriften sind übrigens Saudi-Arabien und der Iran. Ich fühlte mich in Damaskus sehr willkommen. Und meine Besucher fanden immer, dass ich extrem viel lachte und glücklich wirkte. Alle wollten ja wissen, wie es mir erging in diesem „Schurkenstaat“.

Kulturelle Unterschiede

Liest man Ihre Beschreibung syrischer Alltagskultur, ist man ernüchtert: Klans, keine Privatheit, patriarchale Strukturen, autoritäre Kindererziehung, Korruption, ein anderes Verhältnis zu Eigentum, Müll und Verkehrsregeln, keine positive Erfahrung mit Staat und Verwaltung. Die syrischen Flüchtlinge müssen sich doch hier wie auf dem Mond fühlen?

Helberg: Da haben Sie jetzt nur die negativen Schlagworte herausgepickt. Syrische Alltagskultur besteht auch aus sozialem Miteinander, Gemeinschaftssinn, familiärem Zusammenhalt, Sauberkeit im privaten Raum, Respekt vor dem Alter, Rücksicht vor den Gefühlen anderer und Gastfreundschaft. Auch deshalb fühlen sich viele Syrer bei uns zunächst einsam und fremd. Im letzten Jahr sind hauptsächlich Geflüchtete gekommen, die noch nie zuvor das Land verlassen hatten. Sie haben noch kein Leben außerhalb ihrer eigenen Kultur gesehen, kommen aus ländlichen Gebieten oder aus den Vororten der großen Städte.

Das muss man sich so vorstellen, wie wenn ein Landwirt aus Niedersachsen oder Oberbayern oder ein Elektriker aus einer deutschen Kleinstadt nach Tokio geht. Man landet in einem Umfeld, wo man die Sprache nicht kennt, die Schriftzeichen nicht entziffern kann, das Essen seltsam schmeckt, wo man von heute auf morgen Analphabet ist, Bittsteller, ein Niemand. Und das für jemanden, der vielleicht einmal stolzer Besitzer eines Krämerladens war. Der seine Familie gut ernähren konnte. Das ist ein Schock.

Ein Staat handelt durch Strukturen und Bürokratie. Er hat Regeln und Gesetze. Verstehen das die Menschen?

Helberg: Die meisten Syrer wollen loslegen. Sie wollen auf eigenen Beinen stehen, sich ein selbstbestimmtes Leben aufbauen. Aber oft scheitern sie an der deutschen Bürokratie. Es geht um Zeugnisse, Dokumente, die Sprache. Die Jobcenter stellen damit noch mehr Hürden auf. Ein 45-jähriger soll zwei Jahre Deutsch lernen, bevor er zum Beispiel auf dem Bau arbeitet. Stellen Sie sich einen deutschen Bauarbeiter in Syrien vor, der Arabisch lernen soll. Wird er es je schaffen? Wozu muss ein Schweißer fließend Deutsch sprechen? Die Bürokratie steht sich selbst im Weg. In Zeiten wie diesen müssen wir flexibler werden, Spielräume nutzen und Regeln großzügiger auslegen.

Kann daraus denn überhaupt eine Erfolgsgeschichte werden?

Helberg: Die Geflüchteten sind froh, hier in Sicherheit und Freiheit leben zu können, auch wenn unsere liberale Lebensart sie zum Teil schockiert oder anfangs überfordert. Die Syrer sind geprägt von staatlicher Willkür. Sie haben in ständiger Angst gelebt, denn in jedem Moment kann man in Syrien festgenommen oder die Existenz zerstört werden. Die Geheimdienste sind allgegenwärtig und haben das Leben vergiftet. Aber viele Menschen, das darf man nicht vergessen, sind dagegen 2011 auf die Straße gegangen. Der Begriff „Rechtsstaat“ ist sehr abstrakt, aber dahinter steckt eine große Hoffnung. Dass unser Staat sie schützt und dass man ihnen hilft, empfinden die Syrer als Geschenk. Sie wollen ohne Angst leben, Familie und Freunde haben, gesund und zufrieden sein. Und damit sind sie uns doch gar nicht so fremd.

Integration notwendig

Was heißt für Sie Integration? Sie sagen, Integrationswillen an Sitten und Gebräuchen zu messen sei kulturimperialistisch und stehe im Widerspruch zur deutschen Verfassung. Sie vergleichen den Vorbehalt gegenüber einem Minirock Ende der 60er mit dem Vorbehalt gegenüber dem Kopftuch. Und das Kopftuch dann mit dem christlichen Kreuz an einer Halskette oder letztlich sogar einer Brille, die auch irgendwann nicht mehr besonders auffalle. Verharmlosen Sie nicht das politische Signal Kopftuch?

Helberg: Integration ist keine Einbahnstraße, integrare heißt sich erneuern, dass man offen ist für Neues. Das gilt auch für die Mehrheitsgesellschaft. Vergleichen Sie uns doch heute mit den Deutschen der 60er-Jahre. Dazwischen liegen Welten. Wir sind in einem steten Prozess des Wandels von Gewohnheiten und Ansichten, und alle Menschen, die hier leben und sich an die Gesetze halten, haben das Recht, diese Realität mit zu verändern. Es ist doch eine Illusion zu glauben, es gäbe eine homogene Volksgemeinschaft, eine deutsche Leitkultur. Und wer komme, müsse alles so machen wie wir, und dann sei die Welt in Ordnung!

Also ist die Frage, was denn deutsch sei, schon falsch?

Helberg: Nein. Es ist wichtig, dass wir diese Debatte führen, aber nicht über Gebräuche, Gepflogenheiten und Sitten. Wir müssen uns klarmachen, dass wir eine Verfassungsnation sind. Im Grundgesetz steht alles, was wichtig und nicht verhandelbar ist: Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit. Mir scheint, vielen alteingesessenen Deutschen ist nicht ganz klar, was das für das Zusammenleben bedeutet, nämlich dass jeder denken, glauben und äußern darf, was er will, solange er nicht die Rechte anderer verletzt – das gilt nicht nur für Stammtische und Rechtsradikale, sondern auch für Muslime und Zugewanderte. Über dieses Selbstverständnis als Deutsche haben wir schon nach der Wiedervereinigung mit den Ostdeutschen versäumt zu reden.

Und doch: Kein Handschlag, Burkini, Kopftuch, all das bezeichnen Sie als für den emanzipatorischen Prozess nebensächlich. Manche Deutsche fühlen sich dabei unwohl. Sie empfinden diese Signale als Distanzierung, Separation:

Helberg: Weil sie denken, deutsch zu sein bedeute automatisch so zu sein wie sie. Dabei ist es emanzipiert, wenn Kopftuchträgerinnen in diesem Land Richterinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen werden wollen, nicht wenn sie gezwungen werden, dafür das Kopftuch abzulegen. Emanzipiert ist es auch, im Burkini schwimmen zu gehen statt gar nicht. Und der Handschlag ist eine von mehreren Möglichkeiten, sich zu begrüßen. Wir sollten uns entspannen. Ich finde die Burka-Debatte überflüssig und für das Klima in unserem Land schädlich. Es gibt keine Burka-Trägerinnen hierzulande. Es gibt den Gesichtsschleier, den Nikab, den je nach Schätzung 300 bis 900 Frauen tragen, also weniger als 0,01 Prozent der hier lebenden Musliminnen. Wir sollten wir uns freuen, dass 99,99 Prozent der Musliminnen keinen tragen. Es gibt Wichtigeres zu tun. Für einen liberalen Rechtsstaat ist es gefährlich, Kleidervorschriften für bestimmte Gesellschaftsgruppen einzuführen. Es gibt keine Freiheit ohne Toleranz, und die beginnt dort, wo jemand etwas tut, was ich absolut nicht nachvollziehen kann, das kann schmerzhaft sein, wir müssen es aber alle aushalten.

Kulturhoheit

Nochmals: Wie soll die Mehrheitsgesellschaft ein positives, entspanntes Verhältnis zum Islam und zu den Muslimen entwickeln? Es geht auch um so etwas wie Kulturhoheit im eigenen Land:

Helberg: Kulturhoheit im eigenen Land, aha! Fragen Sie einen Ostfriesen, einen Rheinländer, einen Bayern und einen Thüringer …

Zwei muslimische Schülerinnen in Burkinis mit ihrer Schwimmlehrerin am Beckenrand: „Wie kann man sich mit sowas vorher überhaupt duschen?“ Der Ganzkörperschwimmanzug für muslimische Frauen

Vielleicht eint sie alle die Aversion gegen Burka oder Burkini?

Helberg: Wir dürfen die Begriffe nicht vermischen. Der Burkini ist als Schwimmoutfit konservativer Musliminnen zu begrüßen. Die Bäderbetriebe deutscher Großstädte sagen: „Hauptsache, die Frauen gehen schwimmen.“ Und deutsche Gerichte verweisen muslimische Schülerinnen ausdrücklich auf die Möglichkeit des Burkinis, wenn es um die Teilnahme am Schwimmunterricht geht. Die Bedeckung des Gesichts ist dagegen schwer zu ertragen, aber kein Grund für ein neues Gesetz. Die Deutschen sind sich in vielen auch grundlegenden Fragen eben nicht einig – Sterbehilfe, Hausfrauenehe, Betreuungsgeld, Sexualstrafrecht, da führen wir hitzige Debatten, die zeigen, dass sich unsere Ansichten verändern, weil wir ständig in Bewegung sind. Und das ist gut so, denn in einer globalisierten Welt können wir nicht stehen bleiben. Die Deutschen sollten mit sich Frieden schließen, indem sie Einwanderung als Teil ihres Selbstverständnisses betrachten und den Islam normalisieren.

Am liebsten wären den Deutschen, wie Sie schreiben, Muslime, die abends mit ihnen Bier trinken oder in der Kantine Spaghetti Carbonara essen, den Kindern an Weihnachten einen Baum hinstellen und weder beten noch fasten:

Helberg: Der gute Muslim ist der, der nicht mehr als solcher zu erkennen ist. Was ist das für ein Verständnis von Religionsfreiheit? Wir müssen uns daran gewöhnen, dass es auch praktizierende Muslime gibt. Ist das gefährlich? Nein, denn es gibt keine muslimische Initiative, die in Deutschland das Kopftuchtragen durchsetzen will. Muslime sind zur Projektionsfläche für Ängste und Frust geworden.

Ein Anti-Islam-Programm wie das der AfD ist ein gefährliches Signal in diesen Zeiten. Wir sehen, wie es andere Parteien beeinflusst, die aktionistisch hinterhertraben, statt Haltung zu bewahren und uns an das Grundgesetz zu erinnern. Wenn der Generalsekretär einer liberalen Partei sagt, die Muslime müssten ihre Religion an das Grundgesetz anpassen, dann hat er nichts verstanden: vom Liberalismus, von Religion und vom Grundgesetz. Denn Religionen müssen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sein, und jeder kann glauben, was er will, solange er die Gesetze einhält. Der Staat mischt sich nicht in die Wahrheitsfrage der Religion ein. Sonst könnte man auch gleich die katholische Kirche verbieten, weil sie Frauen diskriminiert.

Einwanderung

Arbeit und Sprache sind die wichtigsten Grundlagen für ein Ankommen, sagen auch die Deutschen. Das funktioniert beides nicht, warum?

Helberg: Weil wir noch immer keine legalen, organisierten Wege der Migration haben. Alle diese Menschen, egal ob Wirtschaftsflüchtlinge, syrische Kriegsflüchtlinge oder politisch Verfolgte, kommen illegal nach Deutschland, weil es anders nicht geht. Und alle landen im Asylsystem, das eigentlich ein Individualrecht ist. Und dann wundern wir uns, wenn Strukturen überlastet sind und zusammenbrechen. Die Bundesregierung sollte Kriegsflüchtlinge geordnet über Kontingente holen, einzelnen politisch Verfolgten Asyl gewähren und für alle anderen ein echtes Einwanderungsgesetz beschließen. Wir haben ein Zuwanderungsgesetz, das Einwanderung verhindert, und brauchen stattdessen ein System, mit dem sich nicht nur IT-Experten, sondern auch arme Schlucker von ihrer Heimat aus um Einwanderung nach Deutschland bewerben können.

Sie nennen Deutschland ein verkorkstes Einwanderungsland.

Helberg: Weil die Politik jahrzehntelang geleugnet hat, dass wir ein Einwanderungsland sind, konnte sich auch die Gesellschaft nicht dazu bekennen. Aktuell ist es ja nicht die schiere Zahl der Geflüchteten, sondern unser Kontrollverlust, der die Stimmung so verdirbt und Angst schürt. Wir wissen nicht, wer kommt, warum, und dann haben wir auch noch Angst vor Terrorismus. Das muss sich endlich ändern durch legale Formen der Migration. Nicht um alles Elend der Welt aufzunehmen, sondern um einen aktiven Beitrag zu diesem global so drängenden Thema zu leisten. Selbst zwei Millionen Menschen sind nicht viel für Deutschland. Das wäre so, als wenn in eine volle Kneipe ein Syrer einträte. Da könnte man doch sagen: „Hey, komm her, setz dich und erzähl …“

Unser weniger idyllisches Bild ist doch das endloser Menschen-Karawanen, die in unsere Richtung ziehen.

Helberg: Wir sehen immer nur Massen. Und nicht Menschen. Wir müssen das runterbrechen. Je mehr die Deutschen in Kontakt kommen mit Geflüchteten, umso besser läuft es. Überall dort, wo persönliche Begegnungen stattfinden, werden meist Erfolgsgeschichten draus. Sehr effektiv sind auch private Patenschaften, die wir deshalb institutionalisieren und nicht mehr dem Zufall überlassen sollten. Reden wir von bürgerlichem Handeln, menschlicher Wärme und Existenzförderung. Wichtig ist die Augenhöhe, denn die Syrer sind stolz auf ihre Zivilisation, der wir als Europäer einiges zu verdanken haben. Der östliche Mittelmeerraum wird nicht umsonst als Wiege der Menschheit bezeichnet.

Differenzierung

Die Deutschen seien islamkritischer als andere Europäer, zitieren Sie eine Studie. Sie sollten endlich aufhören, den Islam zu überschätzen. Wie meinen Sie das?

Helberg: Unser Problem mit dem Islam ist, dass wir ihn für alles verantwortlich machen. Wir überschätzen ihn in seiner Wirkung auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft. Er ist an allem schuld. Dabei tut auch ein Muslim Dinge, weil er arm oder reich, gebildet oder ungebildet, vom Land oder aus der Stadt, mächtig oder unterdrückt ist und nicht einfach nur, weil er Muslim ist. Differenzierung gestatten wir jedoch nur uns, nicht „den Muslimen“. Wir schauen auf die Länder des Nahen Ostens und behaupten, der Islam sei nicht demokratiefähig. Doch der Blick durch die religiöse Brille verzerrt unsere Sichtweise auf eine vielschichtige Realität, in der sozioökonomische, politische und kulturelle Gründe ebenso eine Rolle spielen wie westliche Hegemonialbestrebungen und historisches Unrecht.

Der politische Islam ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Unzufriedenheit sucht sich neue Bahnen. Wenn früher linksradikale Ideologien Terror hervorbrachten, ist es heutzutage ein verbrämter Islam. Nicht der Islam radikalisiert sich, sondern die Radikalisierung hat sich islamisiert – so formuliert es der französische Extremismusforscher Olivier Roy. Natürlich spielt der Zustand des Islam in vielen Ländern eine Rolle, weil er unmündige, autoritätsgläubige und manipulierbare Muslime hervorbringt. Die islamische Theologie ist der Orthodoxie verhaftet, muslimische Geistliche sind politisch korrumpiert. Ohne entsprechende Freiräume gibt es keine Besinnung auf die fortschrittlichen und toleranten Ursprünge in der Geschichte des Islam.

Dann ist es also eher die patriarchale Kultur als die Religion, die den Alltag im Nahen Osten prägt.

Helberg: Patriarchale Kultur und eine falsch verstandene Religiosität, die nichts hinterfragt. Schauen wir uns selbst an. Ich war erschrocken, wie kurz es erst her ist, dass Frauen hierzulande ohne Zustimmung eines Mannes ein eigenes Konto eröffnen oder arbeiten dürfen. Das ging noch bis in die 70er-Jahre. Wenn wir uns grob vorstellen wollen, wo die Syrer gerade mental stehen, können wir uns jeweils fragen, wie wohl meine Oma das sehen würde. Ein, zwei Generationen zurückdenken, dann landet man bei autoritären Erziehungsmethoden, übertriebenem Gehorsam, ordentlichem Auftreten, gekämmten Haaren, konservativen Moralvorstellungen. Wir haben manches davon geändert. Auch wenn zum Beispiel unser Frauenbild in der Öffentlichkeit so gar nicht zu unserem Anspruch von Gleichberechtigung passt. Alltagssexismus stilisiert die Frau ebenso zum Objekt wie das Patriarchat – im Westen ist die Frau Objekt der Begierde, im Patriarchat ist sie Objekt der Ehre. Beides müssen wir überwinden.

 

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