Herrschaft der Eliten

„Agonie der Demokratie“ überschreibt Jens Berger seinen Artikel in den Nachdenkseiten, der auszugsweise wiedergegeben wird. Die Aushöhlung demokratischer Rechte,  die aktiv betrieben wird, und die Herrschaft der sogenannten Eliten, der sich die demokratisch gewählten Regierungen längst unterworfen haben, werden unmißverständlich beschrieben.

Seit wann nimmt die Öffentlichkeit es eigentlich ohne weitere Klagen hin, dass die deutsche Politik die Verfassung eines souveränen, demokratischen Staates außer Kraft setzten will, indem sie dem Parlament das Budgetrecht abspricht? Während das Bundesverfassungsgericht den deutschen Politikern hier sehr restriktive Leitplanken gesetzt hat, lässt man andererseits jeglichen Respekt vor der Verfassung anderer demokratischer Staaten vermissen. Griechenland – so hat es den Anschein – gilt für die Eliten dieses Landes als eine Art seniler Großvater, den man davor schützen muss, auf Nepper, Schlepper und Bauernfänger hereinzufallen, indem man ihm die Geschäftsfähigkeit aberkennen lässt und sich selbst die Vormundschaft anmaßt. Man erklärt die griechische Demokratie inzwischen reflexhaft für unfähig, die eigenen Interessen erkennen oder gar vertreten zu können, erklärte sie schlicht für unmündig und ignoriert damit sogar das demokratische „Königsrecht“ eines Parlaments, nämlich die Haushaltshoheit in einem Maße, wie es in der Geschichte bisher nur durch Gewalt- oder Kriegsandrohung oder durch militärische Besetzung möglich war.

Unter dem Deckmantel der Stabilisierung des Euros und der Erhaltung der Europäischen Währungsunion will Deutschland Ländern wie Griechenland in ein Verhältnis zwingen, das wohl am ehesten einem Status entspricht, den Völkerrechtler als „Suzeränität“ bezeichnen – nämlich das Übertragen verschiedener elementarer Bereiche staatlicher Souveränität an einen mächtigeren Staat („Suzerän“). So war es etwa zu Zeiten des britischen Empires vollkommen normal, dass britische Beamte im Auftrag der mächtigen Britischen Ostindien-Kompanie die Fiskalpolitik der indischen Fürstentümer im britischen Machtbereich „koordinierten“. Nicht großartig unterschiedlich ist da der Vorschlag des CDU-Politikers Volker Kauder zu werten, der deutsche Beamte dazu einsetzen will, die fiskalischen Vorgaben, die Griechenland von der deutschen Regierung über die EU diktiert bekommen hat, gegen demokratisch legitimierte Entscheidungen knallhart vor Ort durchzusetzen. Hinter den Kulissen zieht diesmal nicht die Ostindien-Kompanie, die eine Vereinigung reicher Londoner Kaufleute war, die Fäden, sondern ein weitestgehend anonymes Konglomerat der Hochfinanz, das gerne beschönigend mit dem Begriff „Finanzmärkte“ umschrieben wird.

Eigentlich müsste ein Politiker wie Volker Kauder, der schon mit seiner chauvinistischen Aussage „in Europa wird wieder deutsch gesprochen“ unsere Nachbarn gegen Deutschland aufbrachte, und der nun mit seinem Ruf nach einer Art „Generalgouvernement Griechenland“ nicht nur alles in den Schatten stellt, was man in puncto Taktlosigkeit von Unionspolitikern kennt, sondern auch offen einem befreundeten demokratischen Staat die Souveränität abspricht, doch mit Schimpf und Schande aus dem Reichstagsgebäude gejagt werden. Das Ultimatum, dass die deutsche Kanzlerin in Brüssel einrichte, um Griechenland zur Aufgabe seiner Budget-Hoheit aufzufordern, erinnert an die dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte. Diese Art von Großmannssucht trägt dazu bei, dass man sich wieder schämen muss, ein Deutscher zu sein, wenn man ins benachbarte Ausland reist.

Doch wer hat eigentlich bei uns diese zutiefst antidemokratischen Äußerungen kritisiert? Wer hat die Wahrung demokratischer Grundsätze in Europa öffentlich verteidigt? Die deutschen Politiker der aktuellen und früheren Regierungsparteien, die gerne in Sonntagsreden bei feierlichen Anlässen ihr Hohelied auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung singen, jedenfalls nicht. Nein, Demokratie scheint für diese Politiker nur so lange ein schützenswertes Gut zu sein, so lange sie ihnen erlaubt, ihre eigene von Ideologie bestimmte Politik demokratisch zu legitimieren. Sind jedoch die Interessen der Mehrheit nicht deckungsgleich mit der von solchen Politikern vertretenen Dogmen, geraten die Sonntagsreden schnell in Vergessenheit. Haben die deutschen Leitmedien auch nur in einem einzigen kurzen Moment die von der Bundesregierung geforderte Suspendierung der griechischen Demokratie beklagt? Nein, die honorigen Leitartikler, die sich stets in anmaßender Hybris in der Rolle der vierten Gewalt gefallen, haben nicht nur in diesem Fall als Verteidiger demokratischer Grundprinzipien auf ganzer Linie versagt. Wie kann man ihnen da noch die Verteidigung der deutschen Demokratie zutrauen, wenn sie noch nicht einmal imstande sind, mahnend die Stimme zu erheben, wenn vor ihren Augen die Demokratie eines Staates der Europäischen Union außer Kraft gesetzt werden soll?

Dabei ist Griechenland nur die sichtbare Spitze eines riesigen demokratiegefährdenden Eisbergs, der auch schon den Rumpf des deutschen Politdampfers auf bedrohliche Länge aufgerissen hat. Auf ganz vielen Feldern – angefangen von den Hartz-Reformen, über die Rente mit 67, dem Mindestlohn bis hin zum Militäreinsatz in Afghanistan – hat sich die Politik von den Bürgern und deren Sorgen und Interessen verabschiedet. Sie dient nicht dem Allgemeinwohl, sondern den Partikularinteressen einer sehr einflussreichen finanzkräftigen und dementsprechend meinungsmächtigen Minderheit. Quer durch wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmen diese Partikularinteressen die politische Agenda. Dies gilt ganz besonders für die ökonomischen Interessen des Finanzsektors. Die Finanzwirtschaft hat die Politik der letzten Jahre zunächst mit ihrem Druck auf die Deregulierung der Finanzmärkte vor sich her getrieben hat und nunmehr – durch die dadurch ausgelöste Krise – geradezu zu ihrem Bittsteller gemacht hat. Die gesamte europäische Politik buhlt nur noch um das „Vertrauen der Märkte“. Und die Medien plappern das von morgens bis abends auf allen Kanälen nach. Durch die Finanzkrise und die durch sie ausgelöste Eurokrise findet Politik nur noch als Reaktion auf die Märkte statt.

Nicht mehr das Volk, der eigentliche Souverän, sondern die Finanzmärkte bestimmen die Maximen der Politik. Das Ergebnis ist dann die „marktkonforme Demokratie“, die Angela Merkel als Leitbild ausgegeben hat. Mit einer lebendigen Demokratie hat dies jedoch nichts zu tun, es handelt sich vielmehr um eine demokratische Fassade, hinter der ganz andere Kräfte die Fäden ziehen, wie das der britische Politologe Colin Crouch als Postdemokratie beschrieben hat.

Wenn in Griechenland und Italien demokratisch gewählte Regierungen durch sogenannte Expertenräte ersetzt werden, ist das nach klassischer Definition keine Demokratie mehr, sondern eine Technokratie. Übersetzt aus dem Altgriechischen bedeutet dieser Begriff denn auch »Expertenherrschaft«. Diese Entwicklung ist bedrohlich. Geradezu erschreckend ist jedoch, wie widerstandslos diese Aushöhlung der Demokratie hingenommen wird.

Wer es nicht besser wissen kann und sich duckt, mag ein Opfer sein. Wer es besser wissen könnte, aber lieber freiwillig mit dem Strom schwimmt, ist schon kein Opfer mehr. Und wer es besser weiß und dennoch den Mund hält, ist kein aufrechter Demokrat und feige ist er obendrein. Schon einmal ist in Deutschland die Demokratie gescheitert und in einer Katastrophe gelandet, weil es zu wenig aufrechte Demokraten gab oder zu wenig Kräfte, die sich mutig für die Demokratie aktiv einsetzten.

Kommentar

Enttäuschend ist die Sprachlosigkeit der Gewerkschaften. Warum solidarisieren sie sich nicht öffentlich und nachdrücklich mit den Arbeitnehmern in Griechenland, denen weitere Entlassungen und massive Einkommenseinbußen drohen? Aber warum eigentlich eine solche Frage, hat doch der DGB  u.a. die erhebliche Ausweitung der Niedriglöhne und den Anstieg der befristeten Arbeitsverhältnisse mehr hingenommen als bekämpft.

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