Goldgrube Altenpflege

Bei ihnen, den Intensivpatienten, geht es nicht mehr um Heilung, sondern um Pflege. Intensivpatienten liegen zu Hause oder in Pflege-WGs – und sie sind äußerst lukrativ für gierige Dienstleister. Bei diesen Dienstleistern herrscht Goldgräberstimmung: Hohe Renditen und wenig Kontrolle zu Lasten der Patienten. Lesen Sie den gekürzten und redaktionell geänderten Bericht von Anette Dowideit, der Zeitung DieWelt entnommen.

Goldgräber

Die Goldgräber sind schon weit vorgedrungen, bis an die äußersten Ränder der Republik. Gerade sind sie in Chemnitz zugange. Sie bauen dort die alte Reichspost um, einen Respekt einflößenden Gründerzeitbau mit Giebeln und viel Stuck. Im Postgebäude war ohnehin schon lange kein Brief mehr abgestempelt worden, also haben es die Goldgräber der Deutschen Post abgekauft und bearbeiten es jetzt unter Hochdruck: Innenausbauer setzen Wände, damit aus den großen Hallen kleine Krankenzimmer werden; Elektriker fräsen Leitungsschlitze ins Mauerwerk für die Beatmungstechnik, die eingebaut werden soll. Läuft alles nach Plan, ist die alte Reichspost bald ein Profitcenter. Anfang kommenden Jahres soll es so weit sein. Dann nämlich wollen die Goldgräber, genauer gesagt, der große Pflegedienst Advita, hier Patienten einquartieren. Menschen, die direkt aus den Intensivstationen von Krankenhäusern hierher gebracht werden. Die nach schweren Schlaganfällen vielleicht nie mehr zu Bewusstsein kommen werden. Die im Wachkoma liegen. Die über Schläuche an Maschinen angeschlossen sind und rund um die Uhr beatmet werden müssen – ohne Aussicht auf Besserung.

Intensivpflegepatienten

Die Zahl dieser sogenannten außerklinischen Intensivpflegepatienten wächst rasant. Im Jahr 2003 wurden in ganz Deutschland gerade mal 500 solcher Patienten außerhalb von Krankenhäusern betreut, jetzt sind es laut Statistischem Bundesamt rund 20.000. Ihre Betten stehen in ihren eigenen Wohnung, im eigenen Haus. Oder, immer häufiger, in Immobilien wie der Chemnitzer Reichspost, die den für Laienohren etwas zynisch klingenden Namen „Intensivpflege-WGs“ tragen. Advita, der Konzern hinter dem Projekt in Sachsen, hat mit der finanziellen Unterstützung von Immobilienfonds auch schon leer stehende Schulen und eine alte Radiofabrik zu solchen Pflegeimmobilien umgebaut. In ganz Deutschland gibt es schätzungsweise rund 2000 dieser WGs, in denen um die acht Patienten liegen. Oft liegen die Intensivpatienten dabei auch in ganz normalen angemieteten Wohnungen. Aus Sicht der Pflegebranche sind die Kranken, um die es hier geht, die lukrativsten Fälle im gesamten Gesundheitswesen. Für die Krankenkassen sind sie hingegen die mit Abstand teuersten. Patientengold.

Rendite statt Versorgung

Für die Versorgung eines einzigen Patienten zahlt die Krankenkasse pro Monat um die 25.000 Euro an den beauftragten Pflegedienst, wenn dieser den Patienten in dessen Wohnung versorgt. Vor allem das Personal kostet: Fünf Pfleger müssen sich dann um ausschließlich einen Menschen kümmern. Liegt der Patient dagegen mit Leidensgenossen in einer Pflege-WG, wird es für die Krankenversicherung etwas günstiger, weil ein Pfleger dann mehrere Patienten gleichzeitig beobachten kann: Um die 18.000 Euro pro Monat werden dann fällig. Im letzten Jahr gaben die gesetzlichen Kassen laut einer Berechnung ihres Spitzenverbandes schon etwa 5,9 Milliarden Euro für die außerklinische Versorgung von Intensivpflegepatienten aus. Wie hoch die Ausgaben sind, zeigt dieser Vergleich: Für die Versorgung aller 3,3 Millionen Pflegebedürftigen zusammen fielen im letzten Jahr etwa 38,5 Milliarden Euro an. Versorgt vom Pflegekonzern Innerhalb nur weniger Jahre ist eine neue Branche aus dem Nichts herangewachsen. Heute gibt es regelrechte Intensivpflegekonzerne mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Sie bauen überall im Land, und der eine Betreiber schluckt den anderen. Goldgräberstimmung eben. Die Renditen, sagen Branchenkenner, seien traumhaft: Mehr als jeder zehnte Euro vom Umsatz bleibe den Betreibern als Vorsteuergewinn. So etwas gibt es in der Gesundheitsbranche sonst kaum. Das weckt Begehrlichkeiten auch bei jenen, die ihr Geld in solche Boombranchen stecken: Finanzinvestoren. Gerade hat so ein Investor, Advent International, eine der größten dieser Firmen gekauft: die Deutsche Fachpflege Gruppe mit mehr als 1000 versorgten Patienten und gut 200 Millionen Euro Jahresumsatz. Was sie vorhaben mit der Firma, wollen die Finanzinvestoren nicht erzählen, eine Interviewanfrage lehnen sie ab. Auch der Kaufpreis ist geheim. In der Branche gilt allerdings diese Daumenregel: Pro Patient sollen bei einer Übernahme etwa 100.000 Euro gezahlt werden. Das ist das Umsatzpotenzial, das man sich durch einen der Schwerstkranken verspricht. Weitere große Übernahmen sind in Vorbereitung und klar ist: Viele machen da gerade sehr viel Geld. Manches erinnert an den Wilden Westen: Es gibt einen wertvollen Rohstoff, den Patienten. Es gibt fleißige Entrepreneure, die dank dieses Rohstoffs mit etwas Glück sehr reich werden. Im Hintergrund stehen mächtige Geldgeber,  die ganze Goldminen aufkaufen.

Fallpauschalen

An die Zeiten des Goldrauschs erinnert auch dies: Regeln gibt es kaum, nur wenige Gesetze regeln das Geschäft. Dem Missbrauch sind kaum Grenzen gesetzt, Kontrolleure werden der Lage kaum Herr. Und am Ende stehen manchmal dubiose Todesfälle.  Wie so mancher Western beginnt die Geschichte mit einem Helden. Der heißt Andreas Herzig, ist 56 Jahre alt, hat einen Stoppelbart, ein Lausbubengesicht und trägt ein Jesus-Kreuz als Ohrstecker. Herzig kommt an diesem hundsheißen Sommertag gerade vom Frühdienst, ambulante Palliativversorgung.  Die Fahrt zu Herzigs Haus, wo er reden will, reicht für seine Biografie: 23 Jahre als Fachpfleger in Intensivstationen. Früher, erzählt er gegen das Rauschen der Lüftung an, seien die Kranken so lange im Krankenhaus geblieben, bis es ihnen besser ging. „Die saßen dann eines Morgens auf der Bettkante und sagten: Guten Morgen! – und das machte mich als Pfleger zufrieden.“ Kurz nach der Jahrtausendwende aber führte die Politik die Fallpauschalen ein. Anstatt Patienten so lange in der Klinik zu halten wie nötig, bekam ein Krankenhaus nun eine feste Summe pro Patient und Krankheit. Dadurch entstand der Anreiz, die Leute so schnell wie möglich wieder zu entlassen. Aber es gibt auch andere Erklärungen dafür, warum es nun all die Intensivpflegepatienten außerhalb von Kliniken gibt wie etwa eine technisierte Medizin, die heute viel mehr Menschen nach schwersten Schlaganfällen oder Unfällen retten könne als es davor der Fall war.

Pflege-WG

Herzig, mittlerweile im heimischen Garten angekommen, legt dicke Kladden auf den Terrassentisch, in denen er seine Erlebnisse dokumentiert hat. Und dann beginnt er zu erzählen, warum er 2015 seinen alten Job in der Klinik kündigte, um sich auf die Suche zu machen. „Ich wollte das einfach mal wissen: Was passiert eigentlich mit all den Intensivpatienten, sobald wir sie aus dem Krankenhaus rausschmeißen?“ Sein Plan war der: die außerklinische Intensivpflege unter die Lupe nehmen, sowohl die Pflege-WGs als auch die Versorgung beim Patienten zu Hause. Er wollte wissen, sagt er, ob das stimme, was man in seinem Krankenhaus über diese Branche hört: dass dort Patienten zwar aufbewahrt würden, aber es nur in den seltensten Fällen jemandem wieder besser gehe. Also heuerte er beim ersten Intensivpflegedienst an – dem Betreiber dreier Pflege-WGs in Witten und im benachbarten Wetter. Die Räume, in denen die Patienten lebten, seien funktional eingerichtet gewesen wie Krankenhauszimmer, voller Apparaturen fürs Beatmen, Absaugen, Überwachen, gehalten in Pastelltönen, persönliche Gegenstände habe man dort kaum gefunden. „Die Leute in diesen WGs sind überwiegend OP-Wracks, liegen nach Schlaganfällen oder durch Sauerstoffmangel nach einer Wiederbelebung in Embryonalhaltung im Bett, Deko in ihren Zimmern bekommen sie gar nicht mit“, sagt Herzig lapidar. Ein solches WG-Zimmer gilt als offizielles Zuhause der Patienten, ihre Angehörigen mieten sie dort ein. Dieser Umstand ist wichtig, denn er sorgt dafür, dass die Intensivpflege-WGs nicht als Pflegeheime gelten. Mit der Folge, dass staatliche Behörden wie die Heimaufsicht dort im Gegensatz zu Heimen normalerweise keinen Zutritt haben.

Krankenpflege statt Altenpflege

Ein Umstand treibt Herzig um: Von den Bewohnern der WG, allesamt gegenüber den Krankenkassen als „Beatmungspatienten“ deklariert und mit einer Dauerkanüle für eine solche Beatmung im Hals, sei kaum einer tatsächlich beatmet worden. Die erforderlichen Geräte hätten teilweise tief im Schrank vergraben gestanden, fast nie seien sie tatsächlich angeschlossen worden. Unmittelbar nach dem Ablauf seiner Probezeit fragte Herzig den Geschäftsführer des Dienstes, warum all die Patienten gar nicht beatmet würden, erzählt er. Die Reaktion des Geschäftsführers des Pflegedienstes, in dem Herzig arbeitete, war, ihn abzumahnen und kurze Zeit später zu kündigen. Das Arbeitsgericht sprach ihm eine Abfindung zu. Herzigs Vermutung war diese: Wäre die Beatmung der Patienten offiziell beendet worden, die Kanüle aus dem Hals entfernt, hätten die Betroffenen nicht mehr als Intensivpflegepatienten gegolten. „Wenn die Kanüle weg ist, verliert der Patient auf einen Schlag 90 Prozent seines Wertes“, sagt er. Die Vergütung nämlich ist so geregelt: Für die Versorgung eines Intensivpflegepatienten kommen in Deutschland die Krankenkassen auf. Für einen einfachen Pflegebedürftigen gibt es hingegen fast nur Leistungen von der Pflegekasse, das sind im höchsten Pflegegrad gerade mal knapp 2000 Euro pro Monat. Der finanzielle Anreiz also, Intensivpflegepatienten in diesem Zustand zu belassen, sie weiter zu beatmen, obwohl es gar nicht mehr  nötig wäre, ist groß. Es gibt einige in der Branche, die Herzigs Beobachtung teilen: dass der Anreiz vielerorts ausgereizt werde – und vermutlich Tausende Patienten mit Kanüle im Hals in Pflegebetten lägen, ohne dass es nötig wäre.

Fragwürdige Intensivpflege

Einer, der dies vermutet, ist der Palliativmediziner Matthias Thöns, der sich seiner kritischen Haltung wegen schon häufig mit anderen Vertretern seiner Branche angelegt hat, und in dessen Netzwerk auch Pfleger Herzig mittlerweile arbeitet. Die beiden Männer fanden beruflich zueinander, weil sie die Skepsis gegenüber außerklinischer Intensivpflege teilen. „Das Phänomen, dass diese lukrativen Patienten in den Einrichtungen gehalten werden, ist durchgängig und häufig zu beobachten“, sagt Thöns. Die Fälle, in denen es so läuft, sind allerdings nicht immer eindeutig einer Seite anzulasten. Denn die Indikation, dass jemand weiterhin Intensivpflegepatient ist und die Kanüle im Hals bleiben soll, muss immer von einem Arzt gestellt werden. Und manchmal, sagt Mediziner Thöns, wollten auch die Angehörigen, dass ihre Verwandten möglichst lange Intensivpflegepatienten bleiben und nicht auf den Status eines einfachen Pflegebedürftigen zurückfallen – weil sie sonst keinen Anspruch auf die kassenfinanzierte All-inclusive-Versorgung in der WG mehr hätten. „Diese Leute sagen dann: Lasst bloß die Kanüle drin! Sonst hab ich den Vater bei mir in der Wohnung liegen oder muss ihn teuer in einem normalen Altenheim unterbringen.“ Die Pflegedienstbetreiber selbst erklären, sogar einige Patienten selbst unter den wenigen, die bei Bewusstsein seien – wollten ihre Kanülen behalten.

Finanzinvestoren

Die WG, in der Herzig rund ein Jahr arbeitete, gehört zur Firma Cura24, einem eher kleinen Pflegedienst, der allerdings mittlerweile zu einem großen Verbund gehört: der Deutschen Fachpflege Gruppe. Jenem Unternehmen also, das gerade aus den Händen eines Investors in die eines zweiten wanderte. Der neue Eigner, Advent International von der amerikanischen Ostküste, kauft seit Jahren immer wieder Firmen in Deutschland auf, die Kranke und Pflegefälle versorgen. Sie trimmen die Firmen, verschlanken sie und verkaufen sie dann wieder. Für die gekauften Unternehmen bedeuten solche Übernahmen eine extreme Belastung. Denn die Käufer nehmen Kredite auf. Und die Zinsen für diese Kredite müssen die gekauften Firmen mit ihren Gewinnen erwirtschaften. Hinzu kommt: Die Investoren erwarten, dass die Firmen, die nun in ihrem Finanzportfolio stecken, ihre Gewinne steigern. Denn werden sie nach drei, vier Jahren weiterverkauft, müssen sie so zumindest die Kalkulation der Investoren – an Wert gewonnen haben. Zurzeit aber, heißt es in der Branche, feilschten Finanzinvestoren aus den USA, Großbritannien, Skandinavien und sogar China mit irren Geboten um deutsche Pflegeanbieter, sie böten das Zehnfache des Vorsteuergewinns, doppelt so viel wie noch vor fünf Jahren. Je höher aber der Kaufpreis, umso höher der Gewinndruck für die Kaufobjekte. Zuweilen bleiben bei diesem Drehen an der Gewinnschraube die Patienten auf der Strecke.

Versorgungsdefizite

Vor ein paar Jahren berichtete WELT AM SONNTAG darüber, was bei einem solchen Investment von Advent International geschah: Die damals übernommene Pflegeheimkette Casa Reha war offenbar derart hart zurechtgespart worden, dass plötzlich auf vielen Stationen weniger Pfleger arbeiteten, als es die gesetzlichen Vorgaben verlangen. Die Skandale im Konzern häuften sich, Senioren blieben stundenlang in ihrem Urin liegen, waren dehydriert und unterernährt, mehrere Heime schrammten knapp an der Zwangsschließung vorbei. Den Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, veranlassen solche Fälle, eine strikte gesetzliche Kontrolle der Renditen zu fordern, die Finanzinvestoren erzielen – für die Pflegebranche insgesamt und die Intensivpflege im Speziellen: „Es darf nicht sein, dass außerklinische Intensivpflege zum Spekulationsobjekt für Finanzinvestoren wird und darunter die schwer kranken Patienten leiden“, sagt er.

Spannend macht den Fall Cura24, wo Herzig arbeitete, auch: Die Deutsche Fachpflege Gruppe schluckte, während sie selbst an den Finanzinvestor verkauft wurde, ebenfalls einen Konkurrenten. Diese neue Tochterfirma mit dem Namen Heimbeatmungsservice Brambring Jaschke hat einen exzellenten Ruf. Wann immer Medien über Intensivpflege berichten, kommt deren Gründer Christoph Jaschke zu Wort. Er fordert dann, dass Krankenkassen sich die Versorgung der Patienten mehr Geld kosten lassen sollten. Natürlich sei es gut möglich, dass in einem so großen Unternehmen in der Vergangenheit vereinzelt Dinge passiert seien, bei denen er selbst sich „die Haare raufen würde, wären sie in meiner Firma passiert“. Ausschließen will er spontan gar nichts, kommentieren auch nicht. Zu Herzigs Vorwurf, in der Wittener WG hätten zu seiner Zeit überwiegend Patienten gelegen, die nicht wirklich Intensivpflege brauchten, antwortet er später schriftlich, die Anschuldigungen seien haltlos. Am Telefon fügt er hinzu, er habe den Geschäftsführer von Cura24 angerufen, und der habe ihm versichert, dass der Firma auch insgesamt nichts vorzuwerfen sei. Folgt man Jaschkes Argumentation, ist so etwas gar nicht möglich, denn es würde doch den Kontrolleuren der Krankenkassen auffallen, die die Verordnungen regelmäßig überprüften. Es gibt aber Gründe, die annehmen lassen, dass das so nicht stimmt. Zum einen: Die Deutsche Fachpflege Gruppe kauft oft kleinere Konkurrenten auf, und nach Auskunft der AOK Bayern sind allein im Freistaat mehrere davon schon wegen falscher Angaben gegenüber den Kassen auffällig geworden. Zum anderen: Die Vermutung, dass Pflegedienste mitunter Patienten als intensivpflegebedürftig darstellten, weil sich so mit ihnen viel Geld verdienen lässt, teilt auch ein Mann, den man als obersten Sheriff in der Intensivpflegebranche bezeichnen könnte. Jürgen Brüggemann, Pflegeexperte bei der Spitzenorganisation der Medizinischen Dienste der gesetzlichen Krankenkassen. Die Dienste kontrollieren in Heimen und bei ambulanten Diensten die Pflegequalität und überprüfen, ob richtig abgerechnet wird.

Abrechnungsbetrüger

„Die Vermutung liegt nahe, dass einige Betreiber die attraktiven Patienten nicht unbedingt loswerden wollen“, sagt er. Brüggemann nennt solche schwarzen Schafe schlicht Abrechnungsbetrüger. Das Problem: Die Prüfer kommen kaum in die Goldminen hinein, genau wie die Kollegen der staatlichen Heimaufsichten. Sie dürfen die Privatwohnungen der Menschen, also auch die Zimmer in den Pflege-WGs, nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Betroffenen oder ihrer Angehörigen betreten. Denn die Gegenseite hat längst mit neuen Waffen aufgerüstet. Teilweise sollen Pflege-WGBetreiber die Angehörigen neuer Patienten beim Einzug einen Zettel unterschreiben lassen: „Wir wünschen keine Qualitätsprüfung durch den MDK.“ Beim AOK-Bundesverband vermutet man, dass Angehörige zuweilen solche Unterschriften leisteten, weil sie unter Druck gesetzt würden. „Einige haben sicher die Sorge, sonst den Platz in der WG gar nicht erst zu bekommen“, vermutet die dortige Pflegeexpertin Christiane Lehmacher-Dubberke. Die Plätze in den WGs sind rar, die Nachfrage ist riesig. Offenbar verbünden sich hier mehrere Faktoren: Die Betreiber wollen den lukrativen Intensivstatus ihrer Patienten nicht verlieren. Und deren Angehörige sind zuweilen mit der häuslichen Fürsorge, und vielleicht auch finanziell, überfordert und wollen, dass alles so gut geregelt bleibt – gut für sie. Wie viel von den fast sechs Milliarden Euro, die die gesetzlichen Krankenkassen im letzten Jahr für außerklinische Intensivpflege ausgaben, zu Recht bezahlt wurde, lässt sich also kaum prüfen. Es gibt aber Anhaltspunkte. Ein anderer Kassen-Sheriff, Dominik Schirmer, der in Bayern die Fehlverhaltensstelle der AOK leitet, sagt, dort ermittele zurzeit die Staatsanwaltschaften gegen jeden vierten der dort tätigen 110 Intensivpflegedienste wegen Abrechnungsbetruges. Manchmal gehe es um Patienten, bei denen – wie im Fall der WG, in der Pfleger Herzig arbeitete – vielleicht der Status als Intensivpflegepatient gar nicht mehr gerechtfertigt war. Viel häufiger aber, sagt Schirmer, drehten sich die Abrechnungsbetrugsfälle darum: Patienten würden von einfachen Kräften überwacht anstatt von Fachpflegern, die für den Umgang mit Beatmungspatienten fortgebildet seien.

Nachrichtlich:

Die fünf größten Intensivpflegebetreiber

Patienten Firma Firmensitz Art
3048 Renafan GmbH Berlin Privat
2706 Bonitas GmbH & C0 KG Herford Privat
1821 advita Pflegedienst GmbH Berlin Privat
1743 Pflegewerk Managementgesellschaft mbH Berlin Privat
1050 Deutsche Fachpflege Holding GmbH München Privat

Quelle: Yannic Hertel, pflegemarkt.com

 

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