Gesundheitsversorgung

„Es dominiert die Zweiklassenmedizin“

Warum unser Gesundheitssystem Reiche begünstigt und so alles andere als gerecht ist – das erklärt Karl Lauterbach, Professor für esundheitsökonomie an der Kölner Universität, im Interview. Karl Lauterbach ist Professor für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie an der Universität zu Köln. 2005 wurde er per Direktmandat für die SPD in den Bundestag gewählt. Dort ist er unter anderem Mitglied im Ausschuss für Gesundheit und gilt als Querdenker in den eigenen Reihen. Seine Kritik am deutschen Gesundheitssystem veröffentlichte er 2007 in dem Buch „Der Zweiklassenstaat“

ARD.de: Gibt es bereits eine eingeschränkte Verteilung von Leistungen im deutschen Gesundheitssystem?

Karl Lauterbach: Eine direkte Rationierung findet im deutschen Gesundheitssystem noch nicht statt. Es gibt keine medizinisch unstrittigen Leistungen, die eine Klinik oder ein Arzt einem Patienten vorenthalten mit der Begründung, das Geld reiche nicht. Zur Zeit werden viele Untersuchungen und Eingriffe gemacht, die überflüssig sind oder schaden. Mehr als doppelt so viele Herzkatheteruntersuchungen als im europäischen Durchschnitt in Deutschland sind mehr als wir brauchen. In keinem Land Europas wird mehr geröntgt als bei uns.

Erst in zehn Jahren wird der medizinische Bedarf stark ansteigen, nämlich wenn die Babyboomer-Generation in das Alter der chronischen Krankheiten kommt. Dann gibt es entweder mehr Geld für die gesetzlichen Krankenkassen, oder Rationierungen werden wahrscheinlich. Bis dahin dominiert die Zweiklassenmedizin. Dabei bekommt zwar auch der Einkommensschwächere die Leistung, die der Einkommensstärkere bekommt, aber von einer geringeren Qualität. Das ist keine Rationierung, sondern nur eine ungerechte Ungleichbehandlung. Aber schlimmer als eine kaum notwendige Leistung nicht zu bekommen ist es, eine notwendige Leistung in schlechter Qualität zu bekommen.

Wer entscheidet denn heute über die Zuteilung von Leistungen und nach welchen Kriterien?


Die Zuteilung der Leistungen ist fast immer Sache der Ärzte, und dabei spielt die Frage, ob jemand privat versichert ist oder nicht, eine dominierende Rolle. Innerhalb der Gruppe der gesetzlich Versicherten werden kaum Unterschiede gemacht. Dies wird sich ändern, weil wir in der Gesundheitsreform jetzt beschlossen haben, dass es ein größeres Angebot von Zusatzversicherungen für gesetzlich Versicherte geben wird. Es ist also zu befürchten, dass wir in Zukunft eine Dreiklassenmedizin haben werden: die nur gesetzlich Versicherten, die gesetzlich Versicherten mit einer Zusatzversicherung und die privat Versicherten.

Eine Zuteilung von Leistungen für die drei Gruppen wird es nicht geben, sondern der einzelne Arzt wird das vornehmen. Damit kann die unterschiedliche Qualität der Leistungen je nach Versicherungsstatus zumindest teilweise als medizinisch bedingt verschleiert werden.

Wie könnten gerechte Verteilungen medizinischer Leistungen aussehen?


Norman Daniels, Ethikprofessor an der Harvard Medical School, sagt, dass die medizinischen Leistungen immer nach dem medizinischen Bedarf allein zugeteilt werden müssen, völlig unabhängig von der Zahlungsbereitschaft oder dem Reichtum eines Patienten. Allerdings hält es Daniels für gerechtfertigt, bei gleicher Krankheit jüngere im Vergleich zu älteren Patienten zu bevorzugen. Dieser Interpretation schließe ich mich nicht an.

Das deutsche Gesundheitssystem sei vor allem ungerecht, sagen Sie. Fördert es eine soziale Spaltung?


Die private Krankenversicherung wirbt mit dem Argument, dass der so Versicherte nicht in das Solidarsystem einzahlt und wegen der besseren Vergütung der Ärzte eine bessere Behandlung erwarten kann. Man entzieht sich der Solidarität, um das Geld für eine bessere Behandlung seiner eigenen Gesundheit einsetzen zu können. Das ist natürlich ungerecht, denn wenn die gut Verdienenden der gesetzlichen Krankenkassen das Gleiche täten, gäbe es kein Solidarsystem mehr, und die Ärmeren könnten die Krankenkassen nicht bezahlen. Das System schadet den gesetzlich Versicherten, weil es die Spezialisten auf die privat Versicherten konzentriert und die gesetzlich Versicherten mit der Finanzierung der Lasten der Einkommensschwachen und der besonders Kranken allein lässt.

Reiche Menschen leben länger, sagen Sie. Die Reichen werden begünstigt. Gilt das auch für die Pflegeversicherung?


In der Pflegeversicherung ist es ungerecht, dass die gleiche Versicherungsleistung für gut verdienende privat Versicherte halb so teuer ist wie für gleich gut verdienende gesetzlich Versicherte. Damit soll ein Anreiz gesetzt werden, dass sich auch die gut verdienenden gesetzlich Versicherten in der Pflege wie in der Krankenversicherung privat versichern. In allen sozialen Systemen sollte gelten, dass die Finanzierung einkommensabhängig und die Leistung bedarfsabhängig ist.

Auch das System der Rentenversicherung – jeder bekommt im Durchschnitt das ausgezahlt, was er eingezahlt hat –  ist nicht gerecht, weil Einkommensstärkere viel länger leben und systematisch Gewinne machen, während Einkommensschwache im Durchschnitt mehr einzahlen, als sie aus dem System herausbekommen.

Die Finanzierung des Gesundheitssystems durch Steuern – welche Vorteile hat das für niedrige Einkommen?


Das Steuerrecht ist gerechter als die Finanzierung unserer Sozialsysteme. Die Progression der Einkommenssteuer ist zwar nicht optimal ausgestaltet, aber das ist auf jeden Fall besser als die lineare Belastung in der Sozialversicherung, die auch noch einseitig Lohn und Gehalt und damit die Beschäftigten belastet. Langfristig wäre eine stärkere Steuerfinanzierung gerechter. Dazu würden ein höherer Spitzensteuersatz und eine höhere Erbschaftssteuer passen.

Ihr Buch trägt den Untertitel „Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren“ – was muss sich ändern?


Wenn es nicht gelingt, unser Bildungssystem und unsere Sozialsysteme gerechter zu machen, werden wir ein schrumpfendes Land mit sinkender Lebensqualität und Produktivität sein. Ich halte dies nicht für verantwortbar, weil wir den folgenden Generationen die Grundlage für gute Lebensverhältnisse unnötig verschlechtern würden, nur damit eine kleine Gruppe von ohnedies Privilegierten jetzt keine Veränderungen hinnehmen muss. Im Vordergrund steht aber für mich die ethische Argumentation. Auch wenn es wirtschaftlich nicht so schädlich wäre, wie es ist, hielte ich das bestehende Unrecht bei Bildung, Gesundheit und Rente für nicht akzeptabel.

Das Interview führte Vivienne Schumacher.

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