Gesellschaftliche Schieflagen

Mit gebastelten Galgen („Reserviert: ,Mutti‘ Angela Merkel“) zogen Pegida-Demonstranten in den vergangenen Jahren durch Großstädte in Ostdeutschland. Es war nur der Beginn einer Welle von Hass und Volksverhetzung, gerade in den sozialen Netzwerken. Im Juni rückte der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke die rechtsextreme Gewalt wieder in den Blickpunkt.

Viele Politiker, gerade auf kommunaler Ebene, klagen über massive Drohungen. Über die Vergiftung des sozialen Klimas sprach das Abendblatt mit dem Soziologen Sighard Neckel, Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Uni Hamburg.

HA: Prof. Sighard Neckel: Wir lernen heute, dass die ungeregelte Kommunikation in den sozialen Netzwerken zu einer inneren Tendenz der Enthemmung führt.

Neckel: Weil bestimmte Techniken der sozialen Kontrolle, die wir im direkten Umgang pflegen, hier nicht greifen. Dies liegt an der Funktionsweise von Social Media. Konkurriert wird um Likes und Kommentare. Und die größte Aufmerksamkeit bekommt nun mal der Beitrag, der am stärksten emotionalisiert.

HA: An Stammtischen wird auch oft derbe gesprochen.

Neckel: Das stimmt. Aber bei jeder noch so harten Diskussion sorgt allein die Präsenz anderer Personen am Stammtisch für Grenzen. In den sozialen Netzwerken hat Fehlverhalten dagegen kaum negative Konsequenzen. Es wird sogar im Gegenteil durch erhöhte Aufmerksamkeit noch belohnt.

HA: Brauchen wir strengere juristische Regeln?

Neckel: Es gibt eine alte soziologische Grundregel: keine Norm ohne Sanktionen. Wir machen jetzt die Erfahrung, dass in den sozialen Netzwerken weder die sozialen noch die juristischen Kontrollen wirklich greifen. Dies müssen wir ändern.

HA: Sind Sie selbst bei Facebook?

Neckel: Ja, ich nutze Facebook vor allem als Informationsbörse. Ich erhalte etwa von Kollegen Links zu spannenden Themen. Ich kann auch Kontakte zu Menschen aus meiner Vergangenheit wieder aufbauen, etwa zu Schulkameraden. Aber ich führe bei Facebook keine Debatten, weil dies aus meiner Sicht in der Regel nichts bringt. In einem persönlichen Gespräch ist man viel eher bereit, auf die Argumente des anderen einzugehen.

HA: Warum haben Populisten wie US-Präsident Donald Trump oder der neue englische Premierminister Boris Johnson derzeit Hochkonjunktur?

Neckel: Sie beuten gesellschaftliche Probleme für ihre Demagogie und ihre Sündenbock-Theorien aus. Sie profitieren davon, dass moderne Gesellschaften heterogener und ungleicher geworden sind. Und wachsende Ungleichheit, das wissen wir aus der Forschung, führt dazu, dass Gesellschaften unglücklicher werden.

HA: Woran machen Sie die wachsende Ungleichheit in Deutschland fest.

Neckel: An mehreren Faktoren. Den Rückgang der Arbeitslosigkeit haben wir uns etwa erkauft mit einem dramatischen Anstieg des Niedriglohnsektors. 20 Prozent der Beschäftigten arbeiten für einen prekären Lohn. Die sozialen Gegensätze nehmen immer weiter zu. Für viele Menschen gilt nicht mehr, dass sie für Anstrengungen belohnt werden. Mit einem entfristeten Arbeitsvertrag, mit mehr Lohn, mit der Chance, mit der Familie in ein besser situiertes Viertel zu ziehen. Und wer keine Perspektive für einen sozialen Aufstieg hat, kann vielfach mit Standards des vernünftigen Miteinanders wenig anfangen. Das gilt aber auch für die andere Seite. Wenn etwa Bessergestellte signalisieren, dass diese Welt ganz die ihre ist und sie darüber zu befinden haben, wie es in unserem Alltag zugehen soll. Auch die Weltanschauungen sozialer Gruppen und Milieus sind heterogener geworden. Dadurch wachsen die Spannungen.

HA: War früher doch alles besser?

Neckel: Auf keinen Fall. Die homogene Gesellschaft der 1960er-Jahre, wo man sich immer wieder in denselben Kreisen traf, war extrem aggressiv gegenüber Minderheiten und Außenseitern. Jetzt ist die Gesellschaft viel bunter geworden, auch dank der Zuwanderung. Aber damit wächst das Problem, gemeinsame Standards und Maßstäbe für unser Verhalten zu entwickeln.

HA: Wie kann das trotzdem gelingen?

Neckel: Es geht nur mit klaren Regeln, nach denen sich das Verhalten aller richten sollte. Das betrifft Zuwanderer wie Einheimische. Diese Anpassungsleistung müssen wir von allen verlangen.

HA: Welche Auswirkungen hatte die Flüchtlingswelle 2015?

Neckel: Sie hat zu einer bis dahin in Nachkriegsdeutschland unbekannten Polarisierung geführt und zum Aufstieg einer rechtspopulistisch genannten Partei, nämlich der AfD. Und damit sind wir auch wieder beim Thema Hassmails. Diese Formen der Enthemmung sind nicht zuletzt dadurch ermöglicht worden, dass auch Führungspersönlichkeiten Signale der Enthemmung aussenden. Das gilt nicht nur für AfD-Politiker wie Alexander Gauland mit seiner Einschätzung, die Nazizeit sei nur ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte gewesen. Das gilt auch für die rassistischen Sprüche etwa von Clemens Tönnies, dem Aufsichtsratschef von Schalke 04. Solche Äußerungen signalisieren, dass bestimmte Formen aggressiven Verhaltens zulässig sind. Dennoch warne ich vor Verallgemeinerungen, gerade in Hamburg.

HA: Wie meinen Sie das?

Neckel: Ich habe viele Jahre in Berlin und in Frankfurt gelebt. Seit 2016 wohnen wir jetzt in der Hansestadt. Und ich finde, Hamburg ist eine ausgesprochen freundliche Stadt. Ich freue mich immer auf Gespräche an der Kasse.

HA: Eben „Seid nett zueinander“.

Neckel: Darf ich kurz erklären, warum ich Ihren Slogan auch kritisch sehe?

Gern.

Neckel: Da ist zum einen die historische Sicht. Der Spruch entstand 1948, also drei Jahre, nachdem die Deutschen das schwerste Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts gemeinsam begangen hatten. Da klingt „Seid nett zueinander“ wie ein Zuckerguss über schlimmste Verbrechen, psychische Zerstörungen und schreckliche Traumatisierungen. Und heute hat der Begriff „nett“ auch etwas Abschätziges – „ach, der ist aber nett“. Sehr gut gefallen hat mir aber der Untertitel der Aktion ,Sagen Sie Nein zu Unfreundlichkeit, Wut und Hass.‘ Dieses Anliegen ist auch mir sehr wichtig.

HA: Warum fällt uns das oft so schwer?

Neckel: Unser Alltag verlangt extrem viel Selbstdisziplin, Selbstorganisation und Selbstkontrolle. Viele Dinge müssen wir heute unter einen Hut bringen, Familie, Arbeit, soziale Verpflichtungen und so weiter. Wir sind in unserem ganz normalen Alltag auf drei Dinge angewiesen: Wir müssen selbst funktionieren. Unsere Mitmenschen, mit denen wir zusammen­leben, müssen funktionieren. Und wir müssen uns darauf verlassen können, dass die Infrastruktur, die wir benötigen, um unseren Alltag zu bewältigen, funktioniert. Unsere Taktung ist so eng, dass eine S-Bahn-Störung reicht, um unter Stress zu geraten. Und dieser Stress erzeugt Aggressionen. Uns fehlen die Erholungsinseln.

HA: Was macht Ihnen als Soziologe Hoffnung, dass sich das soziale Klima wieder ins Positive dreht?

Neckel: Ich gehöre einer Generation an, die in den 1960er-Jahren in die Schule gegangen ist. Viele alte Lehrer waren erbitterte Nazis. Und dennoch hat sich Deutschland zu einer weltoffenen Gesellschaft entwickelt, von innen demokratisiert. Das gibt mir die Hoffnung, dass dieser Veränderungsprozess nicht einfach rückgängig gemacht werden kann. Die Zahl derjenigen, die sich zur demokratischen Kultur unserer Gesellschaft bekennen, ist weitaus größer als die Zahl derjenigen, die der Demokratie feindlich und aggressiv gegenüberstehen. Aber wir müssen unsere Werte verteidigen.

Kommentar:

Der Kernsatz des Soziologen Prof. Neckel:“Keine Norm ohne Sanktionen“, gilt auch für Freihandelsabkommen, hier das mit den sogenannten „Mercosur-Staaten“. Zu diesem Abkommen heißt es u.a. in der Erklärung der EU-Kommission vom 1.Juli 2019:

Das Abkommen bringt erhebliche wirtschaftliche Vorteile mit sich und fördert gleichzeitig hohe Standards. Mit diesem Abkommen haben sich die EU und der Mercosur zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzübereinkommens verpflichtet. Für Brasilien beinhaltet dies eine Verpflichtung zur Bekämpfung der Entwaldung. In einem eigenen Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung werden Themen wie die nachhaltige Bewirtschaftung und Erhaltung der Wälder, die Achtung der Arbeitnehmerrechte und die Förderung eines verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns behandelt. Es bietet auch den Organisationen der Zivilgesellschaft eine aktive Rolle bei der Überwachung der Umsetzung des Abkommens, einschließlich aller Umweltbelange. Das Abkommen dient ferner als neues Forum für eine engere Zusammenarbeit in Bezug auf einen nachhaltigeren Ansatz in der Landwirtschaft und – als Teil des politischen Dialogs im Rahmen des Assoziierungsabkommens – für die Förderung der Rechte der indigenen Gemeinschaften.

Dieser Erklärung kann im weiteren Text und auch im Abkommen selbst nicht entnommen werden, dass Sanktionen erfolgen, wenn z.B. das Klimaschutzabkommen von Brasilien mißachtet wird. Die Folge ist, dass die Rodung des Regenwalds weitergeht und Europa mit Fleisch überschwemmt wird, das nicht gebraucht wird und den hiesigen Landwirten schadet, die sich um eine ökologische Bewirtschaftung ihrer Betriebe kümmern.

Die nationalen Parlamente müssen diesem Abkommen noch zustimmen. Werden sie das tun?