Genossenschaften

Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung: Darauf fußen bis heute Genossenschaften wie die Büchergilde Gutenberg. Das Prinzip des gemeinsamen Wirtschaftens wurde vor 160 Jahren in Deutschland entwickelt. Die UNESCO hat die Genossenschaftsidee in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Lesen Sie den Bericht von Hans Wille, ver.di-publik entnommen.

Die taz ist eine eG, Greenpeace Energy auch, die Volksbanken und Raiffeisenbanken. Wer Mitglied einer eG, einer eingetragenen Genossenschaft ist, der ist nicht nur ihr Kunde, sondern einer ihrer Eigentümer. Es gilt der Grundsatz, dass die Interessen der Mitglieder vor der Gewinnmaximierung rangieren.
„Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele…“, sagte Friedrich Wilhelm Raiffeisen aus Heddesdorf bei Neuwied, einer der beiden Gründerväter der gemeinwirtschaftlich-genossenschaftlichen Idee. Er gründete mit und für notleidende Bauern einen Hilfeverein und später einen Darlehenskassenverein. Zeitgleich, aber unabhängig von Raiffeisen, rief Hermann Schulze-Delitzsch aus dem sächsischen Delitzsch eine Hilfsaktion für in Not geratene Tischler und Schuhmacher ins Leben: Zunächst die „Rohstoffassozia­tion“, später den „Vorschussverein“.

Die Büchergilde Gutenberg

Ihre Maximen waren dabei dieselben: Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Aus ähnlichen Motiven ist Lars Kindervater im Jahr 2014 Genosse bei der Büchergilde Gutenberg eG geworden: „Ich habe ganz im eigenen Interesse gehandelt: Ich wollte sicherstellen, dass mein Anbieter für schöne Bücher mich auch in Zukunft versorgen wird“, sagt der leitende IT-Angestellte bei einem Telefon­anbieter auf die Frage, warum er Genos­se in der Büchergilde Gutenberg geworden ist. „Und ich finde es eine tolle Gelegenheit, einen ganz eigenen Buchclub zu haben“, sagt Kindervater, „zumindest zu einem kleinen Anteil“. Mitglied, also regelmäßiger Käufer der Bücher, ist er bereits seit 1990.

Die Büchergilde Gutenberg ist eine typische gemeinwirtschaftliche Gründung ihrer Zeit. Sie stammt aus der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung – wenn auch nicht aus den ersten Jahrzehnten bis etwa 1900, als viele Genossenschaften im Bankenwesen, im Wohnungsbau und im Lebensmittelhandel gegründet wurden. Die Büchergilde stammt aus den sogenannten goldenen 20er Jahren, der kurzen Zeit der wirtschaftlichen Konsolidierung und politischen Liberalisierung. Für große Teile der Arbeiterschaft waren diese Jahre ganz und gar nicht golden, aber immerhin war nach der Hyperinflation mit der Währungsreform von 1923 auch in Arbeiterkreisen einen Blick über den Tellerrand der reinen Existenzsicherung möglich: Kunst und Kultur rückten plötzlich in Sichtweite.

Dennoch konnten viele Arbeiter und Angestellte an die Anschaffung von Büchern kaum denken. Das Buch war ein Luxus­artikel. Die Idee einer „proletarischen Kulturgemeinschaft“ war die Vision von Bruno Dreßler, dem Ersten Vorsitzender des Bildungsverbandes der deutschen Buchdrucker. Bücher sollten für jeden erschwinglich werden.

„Nur durch die Zusammenarbeit einer Gemeinschaft lässt sich dieser Wunsch verwirklichen“, argumentierte Bruno Dreßler im Sommer 1924 vor dem Bildungsverband der deutschen Buchdrucker. Einstimmig erklärten die anwesenden Gewerkschafter/innen ihre Zustimmung zur Einrichtung der Gewerkschaftsbuchgemeinschaft namens Büchergilde Gutenberg.

Foto: Ullstein Bild

Profit ausgeschlossen

Die Satzung der Büchergilde bestimmte, dass der übliche Verlegergewinn „den Mitgliedern in Form einer besseren Ausstattung“ zugute kommen sollte. Jeglicher Profit, auch der des Einzelhandels, war ausgeschlossen. Mit ihren Beiträgen erwarben die Mitglieder einen Anspruch auf je ein Buch im Vierteljahr sowie die Berechtigung, alle weiteren Titel zu erstehen.

Wechselvolle Geschichte

Die willigen Helfer von Adolf Hitler machten natürlich auch vor der Büchergilde nicht halt: Bruno Dreßler wurde verhaftet, die Zentrale in Berlin wurde „gleichgeschaltet“, aber die Dependance in Zürich konnte durchaus erfolgreich die zwölf finsteren Jahre überstehen, mit dem wieder freigelassenen Bruno Dreßler an der Spitze. Der Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg wurde zum Erfolg. Innerhalb der ersten zwölf Monate nahm die Büchergilde 36.000 Mitglieder auf, 1952 waren es bereits 200.000 und 1962 erreichte die Büchergilde mit 300.000 Mitgliedern ihren Höchststand. Die Leser gierten nach bezahlbaren Büchern, unter anderem einst verbotener Autoren wie Jack London, B. Traven, Ernest Hemingway, Erich Käst- ner und Thomas Mann.

Das wechselvolle Auf und Ab geht weiter: Die Büchergilde, einst Flaggschiff der gewerkschaftlichen Kultur­politik, gerät in den 1990er Jahren ins Trudeln. Weil die Gewerkschaften massive Mitgliederverluste erleiden, konzentrieren sie die schwindenden Einnahmen in ihre Kernaufgaben Tarifpolitik und Arbeitskampf. 1998 folgt dann der logische Schnitt: Die Beteiligungsgesellschaft der Gewerkschaften BGAG trennt sich von der wirtschaftlich angeschlagenen Büchergilde Gutenberg. Die BGAG lehnt immerhin das Kaufinteresse eines Medienkonzerns ab, nimmt stattdessen das Angebot von vier leitenden Mitarbeitern der Büchergilde an, ihnen die Buchgemeinschaft zu verkaufen. „Damit konnten wir die Unabhängigkeit von Verlag und Programmarbeit sichern“, sagt Mario Früh. Der bisherige Programmleiter war nun einer der vier neuen Gesellschafter der GmbH. „Das war ein wichtiger Schritt zu Stärkung der Unabhängigkeit und des Gemeinschaftsgedankens der Büchergilde“, sagt Mario Früh.

2015 folgt dann die Kehrtwende zurück zu den gemeinwirtschaftlichen Wurzeln: Die Büchergilde gibt sich die Struktur einer eingetragenen Genossenschaft.

Mario Früh, der in absehbarer Zeit in Rente geht, wollte sichern, dass die Büchergilde bis dahin eine Rechtsform hat, die die Unabhängigkeit der Gilde auch bei dem Wechsel des Vorstandsvorsitzenden gewährleistet. „Da war mir schnell klar, dass die eG, die eingetragene Genossenschaft, die angemessene Rechtsform ist. So kann die Büchergilde wie seit 1924 als eine Art Non-Profit-Organisation weiter leben, die alle Erträge ins Programm und in die Förderung der Lesekultur investiert.“

Inzwischen bestimmen über Programm und Strategie der Büchergilde Gutenberg eG mehr als 1.100 Genossen. Tendenz steigend. Einer von denen, die über ihren ganz eigenen Buchclub bestimmen, ist Lars Kindervater, der leitende IT-Angestellte bei einem Telefonanbieter. Seine Büchergilde ist übrigens der einzige noch existierende Buchclub im deutschsprachigen Raum. Alle privatwirtschaftlich-profitorientierten Buchclubs existieren nicht mehr.

Genossenschaften

In Deutschland wirtschaften über 5.600 Genossenschaften, die im Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband e. V. (DGRV) organisiert sind. 20 Millionen Menschen sind Mitglied einer Genossenschaft. Damit ist die genossenschaftliche Gruppe die mitgliederstärkste Wirtschaftsorganisation in Deutschland. 800.000 Mitarbeiter arbeiten in den Genossenschaften des DGRV.

2009 bis 2013 gab es einen Boom von jeweils weit mehr als 200 Neugründungen. 2016 kamen 96 Genossenschaften dazu, vor allem in den Bereichen Dienstleistung sowie Umwelt und Energie, gefolgt von Wohnungswesen und Land- und Forstwirtschaft, aber auch in Bildung und Beratung, Einzelhandel, Touristik, Gesundheitswesen und IT-Dienstleistungen.

Dass die Gesellschaftsform der Genossenschaft hochaktuell ist, zeigt Republik, eine in der Schweiz geplante Online-Zeitung, die über Crowdfunding Genoss / innen und Leser / innen sammelt. Innerhalb weniger Tage im Mai dieses Jahres haben die Macher über 12.000 zukünftige Genoss / innen und Leser/innen gewinnen können, die zusammen rund drei Millionen Franken in das Projekt investieren, das eine journalistische Revolution verspricht und den Großverlagen den Kampf ansagt.

Kulturerbe

Als immaterielles Kulturerbe gelten lebendige Traditionen wie mündliche Überlieferungen, Rituale, Bräuche oder Naturwissen, auch Handwerkstechniken, Tanz, Theater und Musik können immaterielles Kulturerbe sein. Entscheidend ist, dass sie Ausdruck von Kreativität und Erfindergeist sind, Identität und Kontinuität vermitteln, weil sie von Generation zu Generation weitergegeben und immer wieder neu gestaltet werden. Seit 2003 hat die UNESCO über 400 immaterielle Kulturerbe der Menschheit anerkannt, darunter die Rumba aus Kuba, die traditionelle chinesische Medizin und die italienische Geigenbaukunst.

Weil die Büchergilde unbeeinflusst war von Profitinteressen, wurde sie der machtvolle Gegenentwurf zu den bürgerlich- privatkapitalistischen Buchgemeinschaften, die bereits um die Jahrhundertwende entstanden waren. Ende 1924 hatte die Büchergilde 5.000 Mitglieder, Ende 1925 zählte sie 18.000 Mitglieder. Das Erfolgsrezept: Die Büchergilde bewarb ihre Bücher weit über die Kreise der Drucker hinaus im gesamten Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu. 1928 hatte sie 55.000 Mitglieder und entwickelte sich bis 1933 mit 85.000 Mitgliedern zur drittgrößten Buchgemeinschaft der Weimarer Republik.

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