Gemeinwohl vs. Eigennutz

Proteste gegen staatliche Maßnahmen sind demokratisch legitimiert, wenn Grundregeln des gesellschaftlichen Miteinanders eingehalten werden wie z.B. der Verzicht auf Gewalt. Dieser Verzicht achtet den Menschen in seiner Unversehrtheit. Lesen Sie dazu den gekürzten und redaktionell geänderten Beitrag der taz mit der Überschrift „Egoismus als Grundrecht“:

Was hat die Impfpflicht mit Stuttgart 21 zu tun? Mehr, als ein oberflächlicher Blick vermuten ließe. In Stuttgart war eine Mehrheit der Bürgerinnen gegen ein Mammutprojekt, dessen Kosten sich inzwischen vervierfacht haben und das laut Whistleblowern schon ein Korruptionsvolumen von 600 Millionen Euro aufweist. Jahrelang äußerten sich mehr als sechzig Prozent gegen das Bauvorhaben.

Die Stadt war gespalten, aber kein Verantwortlicher zerbrach sich den Kopf über eine drohende Spaltung der Gemeinwesens. Zehntausende protestierten, immer wieder, doch niemand fürchtete sich davor, dass die Gegner „auf die Barrikaden gehen“ würden. Ganz anders nun die politische Haltung gegenüber Impfskeptikern und -verweigerern, welche überwiegend Rechtsradikale sind. Damals Hybris, heute Verständnis.

Nicht nur bei Stuttgart 21. Zeitweise waren zwei Drittel der Deutschen gegen den Krieg in Afghanistan. Es gab immer wieder gewaltige Friedensdemonstrationen. Die damalige Antwort: Staatsräson geht vor. Ob im Hambacher Forst, in Gorleben, bei der Startbahn West, stets wurde der Protest negiert und ignoriert, weil angeblich ein höheres Interesse existierte (Fortschritt, Investition, Mobilität).

Und nun Corona.  Eine geradezu gegenteilige Gewichtung der Regierungen. Vorsicht und Zaghaftigkeit statt entschlossenes Handeln. Was ist geschehen? Gibt es neue Grundrechte oder eine veränderte Verfassung? War die Wehrpflicht, um nur ein Beispiel zu nehmen, kein Eingriff in die persönliche Autonomie ?(Ich persönlich finde, dass zwölf oder fünfzehn Monate des eigenen Lebens ein erheblich größeres Opfer darstellen als eine medizinische Behandlung, die zudem auch der eigenen Gesundheit dient)

Gemeinwohl war gestern, überwiegt jetzt der Eigennutz?

Geändert hat sich allein die Stimmungslage, zugunsten eines vermeintlichen Grundrechts, das alle anderen überragt: das Recht auf Egoismus. Die Folge einer ideologischen Manipulation, die seit Jahrzehnten kontinuierlich Gemeinwohl abbaut und Individualismus aufbläht. Von der Ich-AG zum Narzissten. Gemeinwohl war gestern, heute gilt der eigene Vorteil. Und Freiheit ist nicht mehr die Freiheit des Andersdenkenden.

Diese Entwicklung ist so tiefgreifend, dass selbst die Rechten, die traditionell alles dem nationalen Wohl unterordnen wollen, mit Recht und Ordnung und Disziplin, sich von ihren einstigen Vorstellungen eines „gesunden Volkskörpers“ verabschiedet haben und nur mehr das Recht der Deutschen verteidigen, sich nicht piksen zu lassen. Nein, wir sind nicht zu sensibel geworden, wie manche dieser Tage behaupten, ganz im Gegenteil, wir haben von Kopf bis Fuß eine dicke soziale Hornhaut ausgebildet.

Es ist auffällig, wie selten (wenn überhaupt) folgendes Argument zu vernehmen ist: Ich habe Bedenken, was die Impfung angeht, aber ich sehe ein, dass wir als Gesellschaft aus der Pandemie nur herauskommen, wenn die allermeisten geimpft sind, ergo werde ich mich trotzdem impfen lassen. Ein Taxifahrer in Köln brachte es neulich auf den Punkt. Auf die Vision eines Fahrgastes, alle Geimpften würden in zwei Jahren tot sein, habe er geantwortet: „Was machst du dann hier allein?“

Was in Talkshows gegen eine Impfpflicht vorgetragen wird, sind Scheinargumente mit viel Rhetorik und wenig Inhalt. Es handelt sich um Populisten, die sich der vermeintlichen Mehrheit verpflichtet sehen und nicht den Tatsachen. In Krisenzeiten sind sie vermehrt anzutreffen, weil sie hoffen, davon zu profitieren. Diese Hoffnung ist nicht unbegründet.

Hätte es die massiven Fehler insbesondere des ehemaligen Gesundheitsministers nicht gegeben, wäre es spätestens im Sommer 2021 möglich gewesen, mit einer Impfpflicht, die erst jetzt im Gespräch ist, bis auf medizinisch begründete Ausnahmen alle impfen zu lassen und sich nicht als Mitgliedsstaat der EU abzuschotten, sonden europaweit für abestimmte Maßnahmen gegen das Virus zuu sorgen. Auch auf europäischer Ebene ist jedoch – wie in den Mitgliedssaaten der EU – Eigennutz ein konstitutiver Faktor. Ihn zu ignorieren, ist nicht nur fahrlässig, sondern geradezu gefährlich.

Zumindest muss jetzt im eigenen Land mit der Impfpflicht bei gleichzeitiger Wahrung der Grundrachte begonnen werden. Es ist daher richtig, wenn die Ampelkoalition die epidemische Lage von nationaler Tragweite beendet hat und damit auch die umfassende Einschränkung von Grundrechten. Maßnahmen wie die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes sind dennoch möglich und können die Rechte von Ungeimpften einschränken..

Anmerkungen

Wer vor einer gesellschaftlichen Spaltung warnt, weil Ungeimpfte nicht wie Geimpfte behandelt, also ungleich behandelt werden, was verfassungsrechtlich völlig einwandfrei ist, will die unzumutbare Spaltung in arm und reich verschleiern oder noch schlimmer: Er gehört zu den Sympathisanten eines gewollten reaktionären Umsturzes und versucht, den rechtsfreien Raum der Rechtsradikalen beizubehalten oder sogar zu erweitern. Wenn z.B. der Ministerpräsident von Sachsen rechtsfreie Räume zulässt und auch der massenhaften Regellosigkeit nicht entgegentritt, dafür aber Kritiker dieser brutalen und menschenverachtenden Systemverächter nicht vor diesen schützt, hat das Recht verwirkt, als Demokrat geachtet zu werden.

Gegen Faschisten, Verschwörungsideologen und ihren parlamentarischen Arm, die AfD:

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