Freital

Seit einem halben Jahr läuft ein Prozess gegen acht Rechtsradikale aus Sachsen. Der folgende Bericht über den Terror in Freital ist auch ein Lehrstück über Demokratiedefizite, Kumpanei, Versagen und heimlicher bis offener Unterstützung für Nazis. Lesen Sie den leicht gekürzten und redaktionell geänderten Beitrag von Christian Unger, dem HA entnommen.

Alhamoud A. liegt in dieser späten Nacht des 1. November 2015 im Schlafanzug im Bett in der Flüchtlingsunterkunft in der Wilsdruffer Straße 127 im sächsischen Freital, als sich am Fenster seines Zimmers ein Feuerblitz entlädt. Nach dem Knall fliegen Glasscherben durch den Raum. Alhamoud spürt ein Brennen in den Augen, Tränen sammeln sich. Er rennt aus dem Raum in den Flur.

Die Fensterscheibe geht zu Bruch, Glassplitter fliegen durch den Raum. Der Angriff auf die Asylbewerberunterkunft in Freital wird der Gruppe um Timo S. zur Last gelegt

Tatort Freital:Die Fensterscheibe geht zu Bruch, Glassplitter fliegen durch den Raum. Der Angriff auf die Asylbewerberunterkunft in Freital wird der Gruppe um Timo S. zur Last gelegt
Foto: dpa Picture-Alliance / Roland Halkasch / picture alliance / ZB

 

 

 

 

Bei der Recherche in Freital werden manche Anwohner sagen, dass der Anschlag auf das Asylbewerberheim eine „dumme Aktion“ von „Spinnern mit großer Fresse aber nichts dahinter“ gewesen sei. Einige sagen, dass diese Taten zu verurteilen seien. Aber müsse die Polizei gleich mit Spezialkommandos anrücken, wenn irgendeiner „irgendwo Polenböller hinschmeißt“.

Es wird bei der Frage nach den Ursachen viel von 40 Jahren DDR gesprochen., in denen man damals das Gefühl mit der Ohnmacht erlebt habe. Über Rassismus und Rechtsextremismus redet kaum einer.

Rassismus

Im Gerichtssaal in Dresden sitzt Timo S. mit rotem Hemd und schwarzem Jackett auf der Anklagebank. Neben ihm Patrick F. und Philipp W., dahinter fünf weitere Angeklagte, sieben junge Männer und eine Frau im Alter von 19 bis 39 Jahren. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen versuchten Mord und gefährliche Körperverletzung vor, zwei Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, ein Angriff auf ein linkes Wohnprojekt, der Anschlag auf das Auto des Linken-Politikers Michael Richter werden ihnen zur Last gelegt. Und: die Gründung einer terroristischen Vereinigung.

Seit gut einem halben Jahr läuft der Prozess gegen die „Gruppe Freital“, in einem Hochsicherheitstrakt, extra für das Verfahren für mehrere Millionen Euro neu gebaut. Über die Flachbildschirme im Saal flackern an diesem Verhandlungstag die Hassbotschaften, die sie in ihren verschlüsselten Chat-Gruppen austauschten:

„Gewalttätige Attacken gegen jeden Asylanten und deren Unterstützer.“

„Kanacken sind fehlerhafte biologische Einheiten die müssen vernichtet werden“

„Ausländer töten!“

„Diesel brennt auch gut“

„Altöl auch“

Die Eskalation in Freital, eine Stadt mit 40.000 Einwohnern, ist Teil einer deutschen Chronik zur Flüchtlingskrise der vergangenen Jahre. Es ist das hässliche Kapitel. Lesezeichen: Freital, Heidenau, Clausnitz, Bautzen. An mehreren Orten kam es zu Pöbeleien, Übergriffen oder Ausschreitungen gegen Politiker oder Flüchtlinge. Die Anklage der Bundesanwaltschaft gegen die Gruppe um Timo S. zielt darauf ab, dass diese Gewalt in Teilen einem Plan folgte. Dass sie nicht immer nur „spontaner Protest“ war, der eskalierte.

Aber warum radikalisierte sich eine Gruppe so stark? Und warum in Sachsen? Wer Antworten sucht, muss mit Menschen sprechen, die diesen Hass erlebt haben. Mit Politikern, mit Anwohnern, Opfern und Anwälten.

Flüchtlingsunterbringung ohne Plan

Am 6. März 2015, ein Freitag, steht Michael Richter vor dem Hotel „Leonardo“ in Freital, das schon seit einiger Zeit niemanden mehr beherbergt. Der Linkenpolitiker und ein paar Dutzend andere heißen die Flüchtlinge an diesem Abend willkommen. Vorbereiten konnten sie nicht viel, denn erst seit etwa 48 Stunden ist klar, dass jetzt hier Syrer, Iraker und Eritreer wohnen sollen. So hatte es das Land entschieden. „Als Stadträte konnten wir die Menschen nicht informieren. Auch dafür war keine Zeit“, sagt Richter heute.

Es ist das Jahr 2015, die Zahl der Schutzsuchenden, die nach Deutschland kommen, steigt schnell. Aber Unterkünfte für Asylbewerber gibt es wenig, sie waren in den Jahren zuvor nach und nach abgebaut worden. Die Behörden entscheiden nun ohne Langzeitplan, Städte und Kommunen kämpfen für sich. Und jede Menge Busse mit Menschen aus Kriegsgebieten fahren quer durch das Land. „Wir haben gleich am Anfang eine Chance verpasst“, sagt Richter. Den Menschen zu erklären, wer da kommt und was passiert. Wie das alles zu schaffen ist.

 Unterstützung für Nazis

Im März 2015 ziehen 1500 Freitaler in Richtung Hotel „Leonardo“. Schnell wird die Stimmung hitzig, Böller fliegen. Die Protestler halten Plakate in die Luft: „Wirtschaftsflüchtlinge abschieben“ oder „Dem Volk reichts!“ In den Wochen danach laufen die Asylgegner immer wieder vor dem Heim auf. Mit ihnen marschiert Timo S. Er ist an diesem Märzabend „Ordner“.

Im Prozess sagten Mitglieder der „Gruppe Freital“ aus, dass S. ihr Anführer gewesen sei. Manche in der Stadt sagen heute, dass Timo S. kein Freitaler sei. Ein Zugezogener. Und erst mit ihm sei auch die Gewalt gekommen.

In Freital spürt Timo S. nicht Gegenwind, sondern Aufwind für seinen rechtsradikalen Kampf. In der Region agieren schon seit der Wendezeit organisierte Kameradschaften. In der Sächsischen Schweiz holte die NPD bei der Wahl 2013 ihr bestes Ergebnis. Am Wochenende steht S. mit Gleichgesinnten bei Dynamo Dresden in der Kurve. Pyrotechnik gehört zur Fan-Ausstattung wie Schal und Fahne.

Er lernt seinen Busfahrer-Kollegen Philipp W. kennen, der gegen Juden hetzt und über Gewalt gegen Ausländer fabuliert. Die Freitaler marschieren bei Pegida mit, Fotos zeigen Timo S. auch hier als „Ordner“. Der Bergedorfer findet in seiner neuen Heimat schnell rechte Freunde. Als die Fluchtkrise ausbricht, gründen sie eine „Bürgerwehr“, und passend dazu eine Chat-Gruppe. In Freital läuft jetzt „Frigida“ vor das Flüchtlingsheim.

Anwohner und Neonazis Seite an Seite

In den Monaten danach formieren Asylgegner mehrere Protestgruppen und „Bürgerrunden“ in der Stadt. Sie heißen „Nein zum Heim“ oder „Europa 2.0“. Manche sind radikaler, andere weniger. Manche gut besucht, andere weniger. Auch der NPD-Stadtrat und ein ehemaliger Mitarbeiter des örtlichen AfD-Büros organisieren Demonstrationen und halten Reden. Manchmal laufen Anwohner neben Neonazis, andere versuchen, auf Distanz zu den rechtsradikalen Schreihälsen zu gehen. Aus Dresden reist die „Antifa“ an. Freital wird zur Frontstadt in der Flüchtlingskrise. Timo S. und die anderen in der Chatgruppe beschließen: Ihnen reicht der Protestmarsch nicht mehr.

Im Juli 2015 zündet nachts ein Sprengsatz mit illegaler Pyrotechnik im Auto von Michael Richter. Im September explodiert ein Sprengkörper an dem Küchenfenster einer Flüchtlingsunterkunft. Im Oktober fliegen Pflastersteine und Pyrotechnik auf ein linkes Wohnprojekt in Dresden, teils mit Buttersäure präpariert. Die Sprengkörper heißen „Super Cobra 12“ oder „Viper 12“. In Deutschland sind sie aufgrund ihrer heftigen Wirkung illegal, die Gruppe beschafft sich die Pyrotechnik aus Osteuropa.

Am 1. November folgt der Angriff auf die Unterkunft in der Wilsdruffer Straße. Die Anklageschrift gegen die Gruppe liest sich wie das Drehbuch einer Eskalation. „Viele in der Stadt haben einfach weggeschaut“, sagt Linken-Politiker Michael Richter.

 AfD stärkste Partei

André Barth sagt: „Was in Freital passiert ist, hätte in jeder anderen sächsischen Stadt passieren können.“ Barth ist AfD-Politiker, er sitzt im Landtag von Sachsen. Auch er organisierte den Protest gegen Merkels Flüchtlingspolitik mit. Friedlich, wie er betont. In Freital hat seine Partei bei der Bundestagswahl fast 35 Prozent der Stimmen geholt, klar stärkste Kraft. In Heidenau genauso. In Bautzen auch.

Barth distanziert sich von den Anschlägen der „Gruppe Freital“. Und er sagt: Für eine Radikalisierung einzelner Menschen sorge ein „Umfeld“. Dafür sei aber nicht die AfD verantwortlich. „Die Menschen fühlen sich abgehängt im Osten, viele haben ihre Arbeit verloren.“ Erstmals seien die Ostdeutschen mit einer „Migrationswelle“ konfrontiert. Hinzu komme ein weiterer Bruch: erst die Integration in die Bundesrepublik, dann die Integration in die EU. „Manche überfordert das“, sagt Barth.

Wer durch Freital geht, sieht eine Kleinstadt mit Eisdiele, Restaurants und Kneipen. Es gibt Supermärkte und eine Polizeiwache. Sogar eine riesige Wasserrutsche im Schwimmbad haben sie neu gebaut. Für Neugeborene gibt es ein „Begrüßungsgeld“ von 100 Euro. Hier im Speckgürtel von Dresden liegt die Arbeitslosenquote bei sechs Prozent, die höchste im Landkreis, aber sie sinkt seit Jahren.

Trifft die Geschichte der Abgehängten wirklich zu?

Busfahrer, Altenpfleger, Paketbote

Auch Timo S. und die anderen der „Gruppe Freital“ hatten Jobs, waren Busfahrer, Altenpfleger oder Paketbote, einer noch Schüler. Sie lebten mit ihren Freundinnen, allein oder noch zuhause bei der Familie. An einem Prozesstag Ende September in Dresden sitzen die Eltern eines Beschuldigten und die Freundin eines Angeklagten auf der Zuschauertribüne. Mit Journalisten wollen sie nicht sprechen.

Die Angeklagten organisierten ihren Alltag in der sächsischen Kleinstadt. Und sie organisierten ihren rassistischen Kampf. Die Szene hat sich in Sachsen über Jahre vernetzt. Als im Land die Anti-Asyl-Demonstrationen losbrachen, traten die Akteure dieses Netzwerks öffentlich auf Demonstrationen auf, agierten aber auch weiterhin konspirativ. Das zeigt auch der Prozess gegen die „Gruppe Freital“.

 

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