Fortschritt statt Stillstand

Martin Schulz, der Kanzlerkandidat der SPD, wählt für das Interview mit dem Hamburger Abendblatt vor einem Wahlkampfauftritt in Peine ein Abteil im ICE von Berlin nach Braunschweig, um seine und die Positionen der SPD mitzuteilen, die sich deutlich von der Beliebigkeit der CDU und ihrer Bundeskanzlerin unterscheiden.

Das TV-Duell hat Angela Merkel gewonnen, das zeigen alle Umfragen. Ist die letzte Chance auf einen Machtwechsel verstrichen?

Martin Schulz : Überhaupt nicht! Wer das behauptet, missachtet die Wählerinnen und Wähler. Die nämlich entscheiden über das Wahlergebnis, nicht Umfrage-Institute. Und viele sagen ja auch: Der Schulz hat das Duell gewonnen. Ich habe auf jeden Fall mehr Unentschiedene überzeugt. Und ich liege in den Umfragen deutlich vorne bei den jungen Leuten.

Trotzdem wächst der Rückstand der SPD auf die Union. Welche Möglichkeiten sehen Sie, doch noch Kanzler zu werden?

Schulz: Die CDU hat ein einziges Thema, das heißt Angela Merkel. Das ist inhaltsleer, ohne jeden Plan, ohne Idee für die Zukunft. Dem setze ich meine Themen gegenüber: Wir haben in Deutschland einen enormen Wohlstand, aber große Gerechtigkeitslücken. Deutschland kann mehr, das ist meine tiefe Überzeugung. Und bei mir sind Überzeugungen keine taktische Rangiermasse wie bei Frau Merkel.

Beim TV-Duell haben Sie nicht über die großen Zukunftsthemen gesprochen. Das können Sie jetzt nachholen. Wozu braucht man die Sozialdemokratie in Zeiten der Digitalisierung? Können Sie den Menschen die Angst vor dem digitalen Wandel nehmen?

Schulz: Die zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie ist, technologischen Fortschritt in sozialen Fortschritt umzuwandeln. Das war im 19. und 20. Jahrhundert so, das ist auch im 21. Jahrhundert so. Jeder Fortschritt birgt Risiken, aber auch enorme Chancen. Wir müssen aufhören, die Digitalisierung zu dämonisieren. Die Zeiten des Umbruchs, in denen wir leben, gestalten wir am besten mit Aufbruch. Ein einfaches „Weiter so“ reicht nicht. Ich glaube, dass unser Leben durch die Digitalisierung einfacher wird. Es werden Jobs wegfallen, aber es werden neue Jobs entstehen. Die neuen Jobs der Zukunft werden vor allem eines verlangen: Qualifizierung und Bildung.

Sind unsere Schulen und Hochschulen dafür gerüstet?

Schulz: Leider nicht ausreichend. Daher wollen wir massiv in Bildung investieren. Die jungen Leute haben Smartphones, aber nicht jede Schule hat Wlan. Wer sich in der digitalisierten Welt zurechtfinden will, muss schon in der Schule damit arbeiten können. Entscheidend wird sein, den Aufbruch bei der Bildung als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern zu organisieren. Daher müssen wir dringend das im Grundgesetz verankerte Kooperationsverbot kippen. Wir brauchen Bildungsgerechtigkeit, das bedeutet vor allem kostenfreien Zugang zu Bildung für alle. Und digitale Kompetenzen müssen überall eine Rolle spielen, und sei es mit einem eigenen Fach „Digitales Lernen“. Genauso klar ist aber auch: Wir müssen uns um die ganz banalen Dinge kümmern. Dass es in einem so reichen Land wie unserem Schulen gibt, in die es hineinregnet oder in denen die Kinder nicht aufs Klo gehen wollen, ist eine Schande.

Der frühere SPD-Chef Kurt Beck hat seinerzeit ein wachsendes Unterschichtenproblem beklagt und eine Debatte über das „abgehängte Prekariat“ angestoßen. Will die SPD heute Schutzmacht sein für ein digitales Prekariat?

Schulz: Wir wollen den Zusammenhalt der Gesellschaft sichern und Spaltung verhindern. Deswegen wollen wir Milliarden investieren in Chancengleichheit bei der Bildung. Herkunft darf kein Schicksal sein. Unsere Kinder und Enkel sollen gleiche Chancen haben, wie wir sie hatten. Außerdem müssen wir Arbeitnehmerrechte verteidigen – etwa Angriffe der CDU auf das Arbeitszeitgesetz abwehren. Wir brauchen mehr Tarifbindung und mehr dauerhafte Arbeitsplätze. Der Mut zur Zukunft geht vielen Leuten verloren, wenn sie sich von einem befristeten Beschäftigungsverhältnis zum nächsten hangeln müssen. Deshalb werden wir die willkürliche Befristung von Verträgen abschaffen.

Was ist das Internet für Sie persönlich – mehr als Neuland?

Schulz: Für mich ist das bestimmt kein Neuland, das ist ja unser aller Alltag. Über Messenger mit der Familie schreiben, schnell Nachrichten im Internet lesen. Ich habe eine ganz andere Sorge: Die Amerikaner und Chinesen hängen uns ab. Europa spielt technologisch fast keine Rolle. Wir verschlafen die Zukunft, und Frau Merkel lässt sich dafür auch noch feiern. Wenn ich darüber nachdenke, stehen mir meine wenigen Haare zu Berge. Wenn das Internet für sie Neuland ist, sollte sie Zeit bekommen, sich damit vertraut zu machen. Ab dem 25. September.

Die SPD wird auch nicht gerade als digitale Avantgarde wahrgenommen.

Schulz: Ich sehe das anders. Wir sind die Partei des Fortschritts – auch des digitalen. Ich beschäftige mich seit Jahren mit der Digitalisierung. Ich habe etwa eine digitale Grundrechtecharta mit verfasst. Die Politik muss aufhören, sich selbstgefällig auf die Schulter zu klopfen nach dem Merkel-Motto „Geht uns doch allen gut“. Bei Glasfaseranschlüssen liegt Deutschland hinter Mexiko und Chile. In der Amtszeit von Frau Merkel ist kaum etwas vorangegangen.

Brauchen wir ein Ministerium für Digitalisierung, das den Wandel beschleunigt?

Schulz: Ich glaube es wäre besser, die Zuständigkeit für Digitales im Bundeskanzleramt zu bündeln. Es kann nicht dabei bleiben, dass die Kompetenzen auf mehrere Ministerien verteilt sind und Herr Dobrindt sich die ganze Zeit um den Maut-Murks kümmert und den Ausbau schnellen Internets versemmelt.

Behagt Ihnen eigentlich der Wahlkampf im Netz?

Schulz: Ja, ich hatte zum Beispiel viel Spaß bei einem Interview mit Youtubern in dieser Woche. Das ist ja Wahnsinn, was sich da für eine eigene Szene entwickelt hat, mit gigantischer Reichweite. Auf der anderen Seite wird menschliche Niedertracht im Netz in nie gekanntem Maße sichtbar. Den Klatsch und Tratsch hinter dem Rücken von Menschen hat es immer gegeben. Aber im Netz bekommt alles – auch Verleumdung und Lügen – eine enorme Verbreitung. Dadurch ist auch der Wahlkampf verletzender und unsauberer geworden.

Wie begegnen Sie Falschnachrichten und Manipulationen?

Schulz: Indem wir schnell handeln. Sobald der Fake auftaucht, müssen wir ihn demaskieren. In den Resonanzräumen, in denen er auftaucht, nutzt das oft nichts. Aber das Argument, die Wahrheit müssen wir dennoch hochhalten.

Zum TV-Duell hat die SPD selbst eine Falschnachricht produziert. „Merkel verliert klar gegen Martin Schulz“, lautete der Text einer Anzeige, die im Internet auftauchte – noch bevor das erste Wort gefallen war.

Schulz: Ihren Vorwurf weise ich zurück. Ein Dienstleister hat einen Fehler gemacht. Wir haben das sofort gestoppt und uns für die Verwirrung entschuldigt.

Können Sie sich vorstellen, bei einer Bundestagswahl im Internet statt im Wahllokal abzustimmen?

Schulz: Nein, so weit sind wir noch nicht. Die Manipulationsmöglichkeit von Wahlen ist digital höher als mit Wahlzetteln.

Linke-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht sieht keine Chance mehr auf ein Linksbündnis und gibt der SPD dafür die Schuld. „Rot-Rot-Grün ist nicht an uns gescheitert“, sagt Wagenknecht. Was entgegnen Sie?

Schulz: Dass es im Wahlkampf Wichtigeres gibt als Frau Wagenknecht. Erstmal haben die Wählerinnen und Wähler das Wort. In Deutschland werden nicht Koalitionen, sondern Parteien gewählt.

Bleibt ein Linksbündnis unter Kanzler Schulz möglich?

Schulz: Wer nach der Wahl auf uns zukommen will, ist herzlich eingeladen – auf der Grundlage unseres Programms.

Was sagen Sie jenen in der SPD, die die Linkspartei nicht für regierungsfähig halten?

Schulz: Jeder, der nach der Wahl mit uns regieren will, muss in unser Programm schauen. Und dann sieht man: Wer den Euro oder die Nato infrage stellt, kann nicht in einer Regierung von Martin Schulz mitarbeiten.

Damit ist ein Bündnis mit der Linken ausgeschlossen.

Schulz: Das muss sich die Linkspartei fragen. Ich kann nicht auch noch den Richtungsstreit in der Linkspartei zwischen Herrn Ramelow und Frau Wagenknecht lösen.

Ramelow regiert in Thüringen. Die Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl heißt Wagenknecht.

Schulz: Und ich heiße Martin Schulz. Ich konzentriere mich darauf, die SPD so stark wie möglich zu machen. Ich will Bundeskanzler werden. Wer Wagenknecht wählt, kriegt Merkel. Und wer Merkel wählt, kriegt Seehofer. Wer SPD wählt, kriegt Martin Schulz.

Als Juniorpartner der Union?

Schulz: Wir streben keine Fortsetzung der großen Koalition an. Und wer nach der Wahl mit uns reden will, ist herzlich eingeladen.

Sie wollen Parteichef bleiben, ganz gleich, wie die Wahl ausgeht – haben wir das richtig verstanden?

Schulz: Ich bin gewählt und ich bleibe in jedem Fall Parteichef. Aber ehrlich gesagt: Mich bewegen gegenwärtig andere Fragen.

Woher kommt der Eindruck, dass Außenminister Gabriel den Wahlkampf der SPD stärker prägt als Sie?

Schulz: Ich habe den Eindruck nicht. Ich bin stolz darauf, dass die SPD mit Sigmar Gabriel einen so erfolgreichen und beliebten Außenminister stellt. Davon profitiert die ganze Partei.

War es ein Fehler, dass Sie als Kanzlerkandidat dem Kabinett ferngeblieben sind?

Schulz: Nein, auf keinen Fall. Ich habe Prinzipien und zu denen stehe ich halt. Ich habe im März den Vorsitz der SPD übernommen. Es wäre unredlich gewesen, für sechs Monate Außenminister zu werden. Ich trete an, um Merkel abzulösen. Regierungsämter mit all ihren Privilegien werden nicht zu Wahlkampfzwecken vergeben.

 

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