Ethische Verantwortung

Der Palliativmediziner Matthias Thöns hat eine „sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung“ von Patienten in der Coronakrise kritisiert. Er plädiert für eine bessere Aufklärung. Eine Intensivtherapie sei leidvoll und schade daher den Patienten mehr als sie nutzt. Lesen Sie das gekürzte und redaktionell geänderte Interview.

Es gibt Fachleute, die diese Ausrichtung auf die Intensivbehandlung von Corona-Patienten kritisch sehen, und die vor ethischen Problemen warnen. Einer von ihnen ist Matthias Thöns, er ist Facharzt für Notfall- und Palliativmedizin in Witten in Nordrhein-Westfalen. Er hält die Ausrichtung der Politik auf die Intensivbehandlung von COVID-19-Erkrankten für einseitig.

Peter Sawicki: Herr Thöns, Sie sagen, dass eine ethische Vernachlässigung festzustellen ist. Was genau meinen Sie damit?

Matthias Thöns: Na ja, die Politik hat jetzt eine sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung, auf das Kaufen neuer Beatmungsgeräte, auf Ausloben von Intensivbetten. Und wir müssen ja bedenken, dass es sich bei den schwer erkrankten COVID-19-Betroffenen, so nennt man ja die Erkrankung, meistens um hochbetagte, vielfach erkrankte Menschen handelt, 40 Prozent von denen kommen schwerstpflegebedürftig aus Pflegeheimen, und in Italien sind von 2.003 Todesfällen nur drei Patienten ohne schwere Vorerkrankungen gewesen. Also es ist eine Gruppe, die üblicherweise und bislang mehr Palliativmedizin bekommen hat als Intensivmedizin, und jetzt wird so eine neue Erkrankung diagnostiziert und da macht man aus all diesen Patienten Intensivpatienten.

Ethische Prinzipien müssen gewahrt werden

Sawicki: Werden da also falsche Prioritäten gesetzt?

Thöns: Ich sehe, das sind sehr falsche Prioritäten und es werden ja auch alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen. Also wir sollen als Ärzte ja mehr nutzen als schaden. Bei einer Erkrankung, die schlimm verläuft, also zum Atemversagen führt, können wir tatsächlich nach einer chinesischen Studie nur drei Prozent der Betroffenen retten, 97 Prozent versterben trotz Maximaltherapie.

Sawicki: Was meinen Sie damit?

Thöns: Wenn man nur wenige Patienten retten kann, von denen dann nur einige zurück in ihr altes Leben kommen, aber eine große Zahl derer, die man nach zwei bis drei Wochen Beatmung rettet, schwer pflegebedürftig bleiben, dann sind das bleibende massive Einschränkungen, die die meisten hochbetagten Menschen willentlich nicht ertragen wollen bzw. ablehnen. Gemeint sind medizinische Eingriffe, die mit dem hohen Risiko einer andauernden Pflegebedürftigkeit einhergehen. Deshalb erreicht man überwiegend Therapieziele für diese Patienten nicht, das heißt, die Indikation ist schon fraglich bis verfehlt.

Intensivbehandlung1

Sawicki: Ja, wenn ich da noch nachfragen darf, woher wissen Sie denn, dass die von Ihnen genannmten Patienten diese Intensivbehandlung ablehnen? Was für Erhebungen haben Sie da?

Thöns: Also da gibt es einmal eine Untersuchung, dass 91 Prozent der Befragten Maßnahmen ablehnen würden, die mit dem hohen Risiko einer andauernden Hilflosigkeit einhergehen. Und tatsächlich ist es ja so, dass die Uniklinik Aachen jetzt erste Daten einer Untersuchung herausgegeben hat, und ein Ergebnis war, dass die Patienten die Beatmung selber abgelehnt haben, wohl wissend, dass sie dadurch sterben können.

Sawicki: Gut, das heißt ja also, dass die Richtlinien, dass die Vorgaben ja gegeben sind, dass man sie beachtet.

Thöns: Ja, in der Uniklinik Aachen sind sie auch wegen vorhandener Patientenverfügungen beachtet worden. Ich bin aber so ein bisschen im Zweifel, dass das überall so sein wird. Wir wissen ja aus vielen Untersuchungen, dass die Beatmungszahlen in Deutschland explosionsartig zunehmen, und aus anderen Untersuchungen wissen wir, dass diese Willensermittlung nur bei vier Prozent der Beatmeten stattfindet. Das heißt, diese tollen Zahlen aus Aachen, sage ich mal, wo man den Willen beachtet hat, da möchte ich meine Hand nicht für ins Feuer legen, dass das überall so geschieht, insbesondere, wenn jetzt viele Betten leer sind und schon die ersten Kliniken darüber klagen.

Geld spielt bei der Intensivmedizin eine Rolle

Sawicki: Also glauben Sie, dass da Geldgier eine Rolle spielen könnte? Würde man so weit gehen, auch unnötigerweise Intensivmedizin aus Geldgier, zugespitzt formuliert, anzuwenden?

Thöns: Na ja, das möchte ich ja jetzt keinem so direkt unterstellen, aber in der Vergangenheit hat sich schon gezeigt, dass sich die hochpreisige Intensivmedizin in einen Bereich ausgedehnt hat, wo das die meisten Menschen für sich nicht wollen, und wir wissen aus Befragungen, dass Patientenverfügungen, die das relativ eindeutig ausschließen, oftmals nicht beachtet wurden.

Also von daher gibt es schon deutliche Hinweise, dass da Geld eine Rolle spielt, und wir wissen ja alle, dass Beatmungsmedizin extrem gut vergütet wird, da wird ein Tag zum Beispiel über 24 Stunden Beatmung teilweise mit über 20.000 Euro vergütet.

Sawicki: Aber gleichzeitig werden ja auch viele andere Operationen aufgeschoben oder wurden aufgeschoben, die ja zum Teil auch eben die Krankenhäuser Geld kosten. Also gleicht sich das an der Stelle nicht wieder aus, wenn man jetzt nur auf den finanziellen Aspekt schaut?

Thöns: Das kann ich nicht beurteilen, aber ethisch ist es natürlich eine Katastrophe, wenn man meint, jetzt Verluste durch unnötige Einsparungen selektiver Operationen damit auszugleichen, dass man Menschen beatmet.

Sawicki: Das wollen wir jetzt niemandem unterstellen. Aber bleiben wir trotzdem bei der Frage, ob das dann die richtige Prioritätensetzung ist oder nicht. Wenn Sie sagen, das ist nicht die richtige Prioritätensetzung, warum hat das die Bundesregierung dann getan?

Thöns: Na ja, das ist ja so eine Ausrichtung, die weltweit da ist. Dass man glaubt, wenn man nur mehr Geld in das System steckt und mehr Beatmungsbetten anlegt, dass man diese Krise managt. Das ist einfach in meinen Augen falsch. Ich glaube, wir müssen aufpassen auf die Patienten, die in Pflegeheimen leben, die müssen wir gut schützen, wir müssen aufpassen, dass wir da den Virus nicht einschleppen, also sind diese Maßnahmen im Prinzip alle sinnvoll, die im Moment laufen, wir müssen auf die Hygiene achten, sie müssen Schutzmasken tragen, die Schwestern, Schwestern müssen mehr getestet werden.

Palliativmedizin sinnvoll

Sawicki: Kontakteinschränkungen sind sinnvoll aus Ihrer Sicht?

Thöns: Ja, es gibt ja noch viele weitere Dinge, die man machen muss. Man muss natürlich gucken, dass die Leute nicht ersticken, man muss die vernünftig palliativmedizinisch behandeln. Atemnot zu lindern ist für einen Palliativmediziner, wie ich es bin, eben total simpel, das ist einfach möglich. Kein Mensch muss heute mehr ersticken. Also wir müssen die Menschen nicht beatmen, damit die nicht ersticken, sondern Palliativmedizin kann das sehr leidlos gestalten. Wir müssen Maßnahmen gegen die Einsamkeit machen, wir müssen die Leute jetzt fragen, was wollen sie denn, wollen sie überhaupt die Maximalmedizin? Es wäre doch viel besser, wenn man jetzt die Menschen fragt, statt in 14 Tagen, wenn die Welle kommt, auf einmal so eine Alterstriage wie in Italien  einführen zu müssen. Das wäre doch verheerend.

Sawicki: Ist Ihr persönlicher Eindruck auch aus Ihrem Arbeitsalltag, dass das nicht geschieht, dass man zu wenig mit Patienten, mit potenziellen Risikopersonen darüber spricht?

Wille der Patienten entscheidet

Thöns: Leider spricht man viel zu wenig darüber. Ich versuche ja seit einigen Wochen, Patientenverfügungen so ein bisschen in die Denke reinzubekommen, und jetzt haben die sieben Fachgesellschaften eben auch gesagt, ja, das ist wichtig, wir müssen dringend mit den Leuten sprechen, was sie denn wollen, denn bislang haben nur 30 Prozent der Pflegeheimbewohner eine Patientenverfügung.

Sawicki: Maßnahmen gegen Einsamkeit sollte man auch einleiten. Das betrifft derzeit viele Menschen, die in Pflegeheimen leben, nicht besucht werden dürfen, möglicherweise gar nicht beim Sterben begleitet werden können, wenn sie denn im Pflegeheim  bleiben. Wie kann man dieses Dilemma auflösen?

Thöns: Das Dilemma ist ja weitgehend schon dadurch aufgelöst, dass man ja die Sonderregelung hat, dass Menschen, die im Sterben liegen in Pflegeheimen, Besuch bekommen dürfen. Das heißt, im Pflegeheim sind sie zumindest nicht mehr von ihrer Familie getrennt, wenn sie sich für Palliativversorgung entscheiden. Auf der Intensivstation bleiben sie getrennt.

Sawicki: Gibt es in einer Krise, in einer Pandemie einwandfreies ethisches Handeln?

Thöns: Ja, wir versuchen das ja zumindest. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensivmedizin hat ja Rahmenbedingungen für diese schwierigen Triageentscheidungen auf den Intensivstationen veröffentlicht. Die sind ja ethisch schon ganz gut, muss man sagen, dass man eben nach Überlebenswahrscheinlichkeit dann einteilt. Besser wäre natürlich, klar, wenn man von vornherein nur die Patienten mit dem Rettungsdienst in die Klinik bringt, die auch Intensivmedizin wollen. Und deshalb wäre die Entscheidung viel früher noch viel besser.

 

1ntv:Ein Schweizer Forscher weckt Hoffnungen, wonach gängige Blutverdünner Covid-19-Erkrankten helfen könnten. Wie der „Tagesspiegel“ berichtet, vermutet der Kardiologe Nils Kucher von der Universität Zürich, dass nicht allein das akute Atemnotsyndrom den Tod vieler Corona-Patienten verursacht, sondern auch Lungenembolien eine Rolle spielen. Das sei ein „hart begründeter Verdacht“, sagte der Mediziner der Zeitung. Bei einer Lungenembolie verstopfen Blutgerinnsel lebenswichtige Lungengefäße.