Bruttoverdienste

Wenn seit 2009 die Bruttoeinkommen sinken, dann weiß jeder, dass die Kaufkraft noch stärker als bisher zurückgehen wird als bisher und das Armutsrisiko steigt. Auch wenn dieser Rückgang differenziert zu bewerten ist, ist er für nicht nur für Arbeitnehmer alarmierend, zumal gleichzeitig die Geldvermögen exorbitant steigen.

„Protzige Reiche und verantwortungslose Eliten“ (Ole von Beust, ehemals Bürgermeister von Hamburg) müssen endlich an die Kandare genommen werden. Dazu gehört die umgehende Einführung der Vermögenssteuer und die Betrafung der Steuersünder als Kriminelle. Ferner muss die Einkommenssteuer bei hohen Einkommen deutlich erhöht werden. Die bisherige Umverteilung von unten nach oben ist Ausbeutung und das genaue Gegenteil von Solidarität. Wenn protzige Reiche und verantwortungslose Eliten das nicht verstehen bzw. ihre ungerechtfertigten Privilegien behalten wollen, müssen sie zum solidarischen Verhalten gezwungen werden.

Bruttolöhne 2009 erstmals gesunken.

Die Arbeitnehmer in Deutschland haben 2009 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik brutto weniger Geld verdient als noch im Jahr zuvor. Der Durchschnittsverdienst der Beschäftigten sei um 0,4 Prozent auf 27.648 Euro gesunken, teilte das Statistische Bundesamt mit. Grund für die niedrigeren Löhne sei vor allem die Kurzarbeit und der Abbau von Überstunden-Konten in der Wirtschaftskrise gewesen.

Besonders stark vom Rückgang betroffen waren demnach die Verdienste in der verarbeitenden Industrie. Dort sanken die Löhne je Arbeitnehmer um 3,6 Prozent. Im gesamten produzierenden Gewerbe, dessen größter Teil die verarbeitenden Industrie ist, gingen die Verdienste demnach um 3,1 Prozent zurück. Zum produzierenden Gewerbe gehört neben der Industrie auch das Handwerk.

In Handel, Gastgewerbe, der Verkehrsbranche und auf dem Bau blieben Löhne und Gehälter 2009 gegenüber dem Vorjahr weitgehend unverändert. Bei den öffentlichen und privaten Dienstleistungen hingegen konnten die Arbeitnehmer brutto einen Lohnzuwachs von 2,6 Prozent verzeichnen, in Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei stiegen die Bezüge um 2,1 Prozent.

Die Nettolöhne und -gehälter der deutschen Arbeitnehmer sanken 2009 um 0,9 Prozent. Dies hatte das Statistische Bundesamt schon vor wenigen Wochen mitgeteilt. Nach Steuern sind die Verdienste der Deutschen demnach schon seit Jahren unter Druck. 2008 etwa lagen die Nettobezüge 0,6 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres, 2007 war es ein Minus von 0,5 Prozent, 2006 sogar ein Rückgang von 1,3 Prozent.

Die Bruttolöhne je Arbeitnehmer hätten 2009 aufgrund von Kurzarbeit und des Abbaus von Überstunden gelitten, sagte der Verdienstexperte des Statistischen Bundesamtes, Franz-Josef Steimer. Bei der Berechnung des gesamtwirtschaftlichen Durchschnittsverdienstes werden alle Arbeitnehmer einbezogen – geringfügig Beschäftigte wie Vorstandsmitglieder, Angestellte wie Beamte. Auch alle Entgelte – Weihnachts- und Urlaubsgeld, Zulagen und Prämien – fließen in die Berechnung ein.

Anmerkung der Redaktion:

Berücksichtigt man auch noch die Inflationsrate in 2011 mit immerhin statistisch rund3%, ist der reale Einkommensverlust für die meisten Arbeitnehmer noch grösser. Als Ausgleich für die gesunkenen Einkommen hat diese grandiose Bundesregierung nunmehr eine Steuerentlastung von 6 Mrd Euro ab dem Jahr 2013 beschlossen, die die Arbeitnehmer, zu denen die Geringverdiener gehören,  mit 7,50 Euro monatlich durchschnittlich entlasten wird. Wahrlich beindruckend!

Arm trotz Arbeit: Es geht um viel mehr als Kaufkraft. Von Sven Kummereincke, Hamburger Abendblatt, 6. März 2010, leicht gekürzt wiedergegeben.

Die Pinneberger Verkehrsgesellschaft, kurz PVG, gehört dem Staat. Genauer gesagt: der Freien und Hansestadt Hamburg und den umliegenden Landkreisen. Damit die PVG ihre Busse in Hamburg fahren lassen darf, musste sie eine Ausschreibung gewinnen. Genauer gesagt: Sie musste billig sein.

Um billig sein zu können, muss sie niedrige Löhne zahlen. Genauer gesagt: so niedrige, dass viele der Busfahrer zum Amt gehen müssen. Sie sind so arm, dass sie vom Staat Geld dazubekommen. Von dem Staat, der ihnen keine ordentlichen Löhne zahlen will. Er bezahlt lieber Hartz IV – und dessen Bürokratie. Das ist absurd. Genauer gesagt: skandalös.

 

Arm trotz Arbeit – das ist kein Problem einer verschwindend geringen Minderheit. Allein in Hamburg gibt es mehr als 30 000 sogenannter Aufstocker. Tendenz stark steigend. Dazu kommen diejenigen, deren Stolz es nicht zulässt, zum Amt zu gehen. Und viele Tausende, deren Einkommen so gerade über der Grenze liegt. Es sind nicht mehr nur ein paar Ungelernte, die für einfache Hilfsarbeiten schlecht bezahlt werden. Die Niedriglöhne haben längst die Mitte der Gesellschaft erreicht.

Leiharbeit, Mini-Jobs, Subunternehmer, Outsourcing. Ordentlich bezahlte feste Arbeitsverhältnisse scheinen, zumindest in manchen Branchen, zum Auslaufmodell zu werden. Ein soziale Abwärtsspirale ist in Gang gesetzt.

Diese Entwicklung ist gefährlich. Die Bundesrepublik wurde (und wird immer noch) beneidet um ihre gesellschaftliche und damit politische Stabilität. Denn Deutschland hatte jahrzehntelang eine sehr breite Mittelschicht – aber nur wenige wirklich Arme und sehr Reiche. Seit Jahren schon werden beide Gruppen größer, und das Wachstum am unteren Rand ist besonders stark.

Wir müssen aufpassen. Denn wir könnten sehr viel mehr verlieren als nur Kaufkraft.

 

Lesen Sie auch den gekürzten Beitrag „Der Kontrolleur am Flughafen Hamburg“ aus dem Dossier von Axel Tiedemann und Thomas Andre, Hamburger Abendblatt:

Bernhard Sommerer ist ein ordentlicher Mensch. Seine Aktentasche hat er zu dem Treffen mitgebracht. In festen Klarsichttaschen sind dort seine Unterlagen verstaut. „Meine derzeitigen Lebensumstände“, wie er sagt. Mit gezieltem Griff hat der 45-Jährige, asketisch wirkende Mann die Schreiben parat, die er zeigen möchte: Urteile über Unterhaltszwangspfändung, Auflistungen seiner Schulden, Monatsprotokolle von seinen Schichten als Fluggast-Kontrolleur bei einem privaten Sicherheitsdienst am Hamburger Flughafen. In manchen Monaten hatte er nur einen Tag frei, mehr als 220 Stunden gearbeitet – und muss doch nach Abzug seiner Unterhaltszahlungen mit dem durch Hartz IV festgelegten Satz von rund 840 Euro auskommen: Miete, Heizung, Wasser, Telefon, Reparaturen, Versicherungen zahlt er davon. Zum Leben bleiben ihm rund 200 Euro im Monat. „Irgendwie geht das, man muss eben sparen bei der Kleidung, beim Essen“, sagt er. Egal, wie viel er arbeitet, sein Gehalt ist so gering, dass er den festgelegten Unterhalt für seine Kinder nie zusammenbekommt. Alles, was oberhalb von Hartz IV liegt, wird ihm abgezogen. Oder anders: Ob er viel arbeitet, wenig oder gar nicht – er hätte immer das Gleiche zur Verfügung. Unabhängig von der Scheidung – „eine Familie lässt sich so nicht ernähren“, sagt er.

Am Nachbartisch in dem Café an der Alster klirrt ein Glas, Kellner wieseln geflissentlich zwischen den Tischen umher; draußen hasten Menschen mit dicken Einkaufstüten über den breiten Gehweg. Lange schon war Bernhard Sommerer nicht mehr hier, wo Hamburg schick und teuer ist. Einen Latte macchiato, dazu ein Stück Kuchen – schon wäre sein Tagesbudget für Verpflegung erschöpft.

Arm trotz Arbeit? Ja, diese Aussage könne auf ihn zutreffen, sagt er vorsichtig. So, als sei er selbst darüber erschrocken.

Längst sind es nicht nur Dienstleistungsfirmen, sondern es ist vielfach der Staat selbst, der mit Ausgliederungen und Privatisierungen Dumpinglöhne fördert:  Sommerer und seine Hamburger Kollegen klagen auf Festanstellung mit besserem Tarifgehalt bei der Bundespolizei. Argument: In dem sensiblen Bereich der Flughafenkontrolle leisten sie hoheitliche, polizeiliche Aufgaben zur Terrorabwehr, die privatisiert wurden, um zu sparen. „Ich frage mich“, sagt Sommerer, „warum das private Firmen eigentlich billiger machen sollten, die doch Rendite erzielen wollen?“ Gespart, so vermutet er, wird nur an den Löhnen der Leute. Die Bundespolizei will sich dazu trotz Anfragen per Telefon und E-Mail nicht äußern

Leistung muss sich lohnen – für Arbeitnehmer wie ihn und viele andere muss das wie ein Hohn klingen, vor allem wenn sie als „Aufstocker“ sogar weniger als den Hartz-IV-Satz verdienen. Die Allgemeinheit füllt die Lücke auf: In Zahlen ausgedrückt heißt das, dass der Staat so mit 8,1 Milliarden Euro im Jahr Firmen subventioniert, die zu wenig zahlen. Paradox wird es, wenn der Staat der Unternehmer ist. Das Geld, das er bei den Gehältern spart, muss er als Hartz-IV-Aufstockung wieder ausgeben. Einziger Gewinner dürfte dabei die Bürokratie sein.

Fragt man Fluggastkontrolleur Sommerer, ob sich die viele Arbeit überhaupt noch lohnt und er nicht gleich Hartz IV beziehen sollte, schaut er irritiert. Natürlich brauche ein Mensch Arbeit. „Und wenn man positiv eingestellt ist, dann macht man sie auch ordentlich.“

Nur es wäre schön, wenn man davon auch leben könnte. Mehr will er nicht.

Hinweis der Redaktion: 1,4 Mio Arbeitnehmer sind trotz Vollzeitarbeit auf Hartz IV angewiesen. Tendenz: Stark steigend.

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