Beliebigkeit

Die überaus beliebte Kanzlerin ist beliebig. Nicht einmal ein kräftiges „Sowohl als auch“ ist von ihr zu hören. Beraten und unterstützt von Lobbyisten mächtiger Wirtschaftsverbände wie der BDA, sind Allgemeinplätze ihr Markenzeichen.

Verloren im Nebel

von Till Schwarze, ntv

Angela Merkel ist unglaublich erfolgreich. Mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen lässt sich verfolgen, wie sich ihr Stil des Ungefähren immer weiter durchsetzt und nach und nach Besitz von der gesamten Bundesregierung ergreift. Wer gehofft hatte, in einer schwarz-gelben Koalition werde die Kanzlerin einen klaren Kurs einschlagen oder gar eine politische Botschaft vermitteln, wurde getäuscht. Auch in ihrer Wunschkoalition kann Merkel nicht vermitteln, was sie eigentlich will. Besserung ist nicht in Sicht.

„Es war ein ereignisreiches politisches Jahr“, erklärt Merkel in ihrer letzten Videobotschaft 2009. 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall und die Rettung des EU-Reformvertrages verkündet die Bundeskanzlerin als Erfolge des Jahres. Ganz so, als hätte sie einen wesentlichen Anteil daran gehabt. Von Erfolgen der neuen Bundesregierung spricht die Kanzlerin lieber nicht. Von welchen denn auch: Etwa ein von allen Seiten zerrissenes Wachstumsbeschleunigungsgesetz? Oder ein Koalitionsvertrag, in dem nichts beschlossen, aber alles offen ist? Stattdessen lobt sie mit der Einführung der Kurzarbeit sogar noch ein Projekt aus Zeiten der Großen Koalition. Den guten alten Zeiten, möchte man fast sagen.

Auch Kanzlerin Merkel wird sich wohl über die Feiertage ein paar Gedanken gemacht haben, was da so schief läuft in der schwarz-gelben Koalition. Anstatt dass der erhoffte Wahlsieg der neuen Regierung Auftrieb verliehen hat, kommt sie trotz aller Flugversuche kaum vom Fleck. Das hängt zum einen an Merkels Partner Horst Seehofer, der wild mit dem Flügel schlägt, dabei aber immer in eine neue Richtung will. Zum anderen ist die FDP am anderen Flügel zu keiner Kursänderung bereit und bleibt stur im Sinkflug auf Steuersenkungen – selbst wenn sie den totalen Absturz bedeuten können.

Bloß nicht festlegen

Doch auch Merkel trägt reichlich Schuld daran, dass die Regierung orientierungslos vor sich hintreibt. Die Bundeskanzlerin will politisch auf Sicht fahren, wie sie es nennt, und vermeidet aus pragmatischen Gründen die Festlegung auf klare Positionen. In der wichtigsten politischen Debatte ihrer neuen Amtszeit – über den Luftangriff in Afghanistan – fiel Merkel vor allem durch ihr lautes Schweigen zu den brisantesten Fragen auf. Und bei Themen wie Steuersenkungen und Gesundheitspolitik lässt sie es zu, dass von ihren Ministern oder Koalitionspolitikern ständig neue Nebelkerzen geworfen werden. Wagt sich dann doch mal einer mit einer klaren Aussage nach vorn, wird er sofort zurückgepfiffen und alles dementiert. Das musste zuletzt ausgerechnet der stolze Vizekanzler Guido Westerwelle erfahren, als er im Stil eines Oppositionspolitikers mit einer Absage für die geplante Afghanistan-Konferenz drohte.

Merkel gebärdet sich als Kanzlerin wie bei einer Prüfung, für die man nicht gelernt hat: Hauptsache irgendwie durchkommen, damit man am Ende sagen kann: Ich habe es geschafft. So langsam kommen deshalb Zweifel auf: Fehlen ihr Mut oder Ideen, eine politische Botschaft zu formulieren? Wohin will diese Kanzlerin mit unserem Land?

Für 2010 heißt das nichts Gutes. Afghanistan, Gesundheitspolitik, Schuldenberg und Klimawandel – um nur die wichtigsten Herausforderungen zu nennen, die es zu lösen gilt. Der Koalitionsvertrag gibt nicht in einem dieser Punkte eine Antwort. Da belässt es die schwarz-gelbe Koalition ganz im Stil ihrer Kanzlerin bei verschwommenen Ankündigungen. Auch in ihrer letzten Videobotschaft: „Wir sind auf gutem Weg“, sagt Merkel. Nur ist nicht im Ansatz zu erkennen, wo dieser uns hinführen wird.

Die Kanzlerin über die kassenindividuellen Zusatzbeiträge in der GKV

(gid) Spätestens seit der letzten Sitzung des Schätzerkreises war jedem Politiker bekannt, daß im Jahr 2010 auf die Krankenkassen trotz des um 3,9 Mrd. Euro aufgestockten Staatszuschusses ein Fehlbetrag von annähernd 4 Mrd. Euro zukommen würde, der nach der geltenden Rechtslage nur durch kassenindividuelle Zusatzbeiträge nach § 242 SGB V ausgeglichen werden darf. Wochenlang hat die Kanzlerin hierzu geschwiegen. Jetzt, wo sich einige Kassen gezwungen sehen, Ernst zu machen, ist die Kanzlerin aufgewacht und hat vor der CDU-CSU-Fraktion ihr Mißfallen hingehaucht und gefordert, daß sich das Kartellamt mit dem gleichzeitigen Auftreten der betroffenen Kassen befassen solle.

Die Maulerei der Kanzlerin ist ausgesprochen deplaziert, waren es doch sie und ihre gesundheitspolitischen Frauen und Mannen, denen wir die Zusatzbeiträge verdanken. Diese stellen eine letzte Reminiszenz an die auf dem Leipziger Parteitag mit viel Zuversicht beschlossene und später zum „solidarischen Bürgergeld“ mutierte „Kopfpauschale“ dar. In einem zähen Ringen hatte die SPD einige sozialpolitisch motivierte Modifikationen an der ursprünglichen Konzeption erreicht, insbesondere die Möglichkeit, den Zusatzbeitrag als Prozentsatz des beitragspflichtigen Einkommens auszugestalten und seine Begrenzung auf 1 Prozent dieses Betrages. Was also regt sich Frau Merkel auf, wenn es jetzt zu dem kommt, was sie mit Mühe durchgesetzt hat? Was regt sie sich darüber auf, daß einige Kassen den Schritt zum kassenindividuellen Zusatzbeitrag gemeinsam unternehmen, hätte sie doch bei konsistenter Haltung erhoffen müssen, daß alle diesen Schritt tun, um so einen Einstieg in die auch im Koalitionsvertrag vorgesehenen einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträge  zu erreichen.  Vielleicht ist es  die Enttäuschung darüber, daß sich der Zusatzbeitrag schon beim ersten Anwendungsfall nicht als das entpuppt, was er nach der Begründung des GKV-WSG sein sollte, nämlich ein zusätzliches Wettbewerbsinstrument für die Krankenkassen.

Zusatzbeitrag systemwidrig

Denn dieser Zusatzbeitrag ist nicht das Ergebnis eines unternehmerischen Kalküls. Über seinen Einsatz kann der Kassenvorstand weder nach eigenem Gutdünken entscheiden noch kann er über dessen Ertrag frei verfügen. Der Zusatzbeitrag hat mit den Wettbewerbspreisen einer Marktwirtschaft nichts gemein. Er ist vielmehr de facto, de jure und auch nach der Begründung des GKV-WSG „Teil des Sozialversicherungsbeitrags des Versicherten“, dessen ausschließlicher Zweck die Finanzierung der den Kassen vom Gesetzgeber zugewiesenen Aufgaben ist.

Bei der Festlegung des Beitrags handeln die Kassen daher nicht als Unternehmen, sondern in ihrer Eigenschaft als Träger der mittelbaren Staatsverwaltung entsprechend den Vorgaben des § 242 SGB V. Die Anwendung des (deutschen wie des europäischen) Kartellrechts ist somit ausgeschlossen, auch wenn, wie im vorliegenden Fall, ganz eindeutig ein abgestimmtes Verhalten vorliegt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Kassen ihr Verhalten deshalb aufeinander abstimmen, weil sie Wanderungsverluste befürchten, wenn sie mit der Erhebung eines Zusatzbeitrags alleine stünden. Auch staatliche Einrichtungen können im „Wettbewerb“ zueinander stehen, etwa Gemeinden um Industrieansiedlungen oder Universitäten um Studenten, ohne daß sie dadurch zu Unternehmen im Sinne des Kartellrechts würden. Wieder einmal ist die gesundheitspolitische Szene Opfer ihres wunderlichen verschwommenen Wettbewerbsbegriffs geworden.

Weil das SGB V sehr klar darin ist, daß die Kassen den Zusatzbeitrag erheben müssen, wenn die im Gesetz aufgeführten Voraussetzungen gegeben sind, weil sie etwaige Defizite nicht durch Kreditaufnahme abdecken dürfen, weil ihnen die Politik mit dem § 73b SGB V und anderen Vorschriften Ausgaben vorschreibt und gleichzeitig weitere staatliche Zuwendungen aus naheliegenden Gründen verweigert und weil eine Anhebung des allgemeinen Beitragssatzes nach § 220 SGB V nicht erforderlich ist, solange dieser, wie momentan, noch mehr als 95 vom Hundert der Ausgaben deckt, sind Zusatzbeiträge unvermeidlich. Sie den Kassen anzulasten, ist weder sachlich gerechtfertigt noch moralisch korrekt. Die nunmehr losgetretene Diskussion ist daher bestens geeignet, die allgemeine Politikverdrossenheit unserer Bevölkerung weiter zu beflügeln.

© gid 2010