Aufschwung

Lesen Sie die herrliche Kolumne von Mely Kiyak, der FR entnommen. Treffender kann man nicht formulieren, was es mit dem Aufschwung auf sich hat und wer davon profitiert und wer nicht.


Lieber Aufschwung!

Arme Alte, arme Kinder? Schluss mit dem Genörgel! Wir freuen uns ganz naiv mit Ursula Poppins und schweben über der Erde.

Gesehen? Wie unserer Ministerin am Mittwoch vor Stolz über die neuen Arbeitsmarktdaten die Frisur anschwoll? Ursula von der Leyen trat vor die Kameras und teilte mit, nein, verkündete die homöopathische Dosis von nur noch 3 Millionen Arbeitslosen, und dabei schwoll ihr das Zeug auf dem Kopf an. Die Haare wirkten richtig toupiert. Sie stand ja auch nicht. Sie schwebte. Sie bebte. Sie sagte „Erfolg“ und wippte hoch. „Konjunkturpakete“, es hob sie empor. „Steuersenkungen an der richtigen Stelle“, sie flatterte mit den Armen. „Kurzarbeitprogramme“, sie war nicht mehr zu halten. „Erfolg, Erfolg, wie sind erfolgreich, ich bin erfolgreich, ich bin die Gröößte“, tirilierte sie noch ein letztes Mal und flog wie Mary Poppins durch die Lüfte.

Einst warf man den Deutschen die Unfähigkeit zu trauern vor. Okay. Aber Unfähigkeit zur Freude, das soll uns keiner nachsagen! Wir sollten jeden einzelnen Arbeitslosen hochleben lassen. Bald gibt es wohl keine mehr. Auch die Zahl der in Altersarmut lebenden Rentner, die einen besonderen Naturschutz in Form von Grundsicherung erhalten, liegt gerade mal bei 760.000. Das ist so wenig, bedenkt man, dass es 2003, im Jahr der Gesetzeinführung, 439.000 Empfänger gab. Diese Zahl hat sich nicht einmal verdoppelt! Wer da vor Euphorie die Arme nicht hochreißt, hat wohl Rheuma.

Das Jobwunder ist mittlerweile so kolossal gigantisch, dass 5 Millionen Menschen für 400 Euro einer Tätigkeit nachgehen. Weitere 1,5 Millionen Menschen befinden sich in gruppentherapeutischen Maßnahmen der Arbeitsagentur. Das sind die von Armut bedrohten Rentner von morgen. Doch bis dahin ist es noch eine Weile hin. Warum nicht jetzt glücklich sein. Carpe diem. Lebe den Tag. Lebe den Moment!

Ebenfalls erfreulich ist, dass die Kanzlerin den etwa 40 Millionen Arbeitenden schon im Sommer vermeldete, dass jegliche Wirtschaftskrise überwunden wäre, dank „solider Staatsfinanzen“ und „Investitionen in die Zukunft“. Ja, Schuldenmachen als solides Instrument zur Überwindung einer Wirtschafts- und Finanzmarktkrise ist eine von Herzen gut gemeinte Zukunftsinvestition als Gruß an die Enkel.

Aus völlig nachvollziehbaren Gründen positionierten sich die Arbeitgeberverbände und warfen sich schützend vor den Aufschwung. Sollten die Arbeitnehmer mehr verdienen als während der Krise, werde die Wirtschaft in ihrer Entwicklung empfindlich gestört.

Wer jetzt griesgrämig nachfragt, wer wohl durch die erhöhte Auftragslage profitieren soll, wenn nicht diejenigen, die es erwirtschaften, der geht zum Lachen wohl in den Keller, oder was? Wer meint, dass ein solcher Aufschwung für Arbeitnehmer eine fortlaufende Krise und lediglich für den Arbeitgeber deren Ende wäre, zählt womöglich noch sein Wechselgeld nach oder Schlimmeres. Solche Menschen würden nicht einmal vor der Leier mit der Kinderarmut zurückschrecken. Von wegen, „in manchen Gegenden Deutschlands stehen Kinder nach dem Schulunterricht in meterlangen Schlangen für ein Butterbrot oder eine warme Suppe an“, nörgelnörgel.

Nein, nein, lieber Aufschwung, man muss sich auch einmal freuen können. Ganz naiv, ganz lieb, einfach mal lächeln, einfach mal strahlen, einfach mal antoupiert über der hässlichen Mühsal des Alltags schweben, findet

Ihre Mely Kiyak

So hört sich Aufschwung an:

Dazu: Deutsche Löhne(und Renten) im letzten Jahrzehnt stark gesunken.

Berlin. Die deutschen Arbeitnehmer mussten im vergangenen Jahrzehnt trotz anziehender Konjunktur kräftige Gehaltseinbußen hinnehmen. Zwischen 2000 und 2009 sanken die realen (inflationsbereinigten) Löhne und Gehälter um 4,5 Prozent, heißt es in einer aktuellen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Damit gehört Deutschland zu den Schlusslichtern im internationalen Vergleich. In Finnland und Norwegen hingegen gab es je ein Plus von mehr als 20 Prozent. Weltweit kletterten die Löhne fast um ein Viertel, in Asien verdoppelten sie sich.(rtr)

 

 

 

 

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