Aufrüstung

Von einer Zeitenwende reden sie, und die dauerhafte Aufrüstung ist gemeint. Von Abschreckung ist die Rede, und gemeint ist wohl das Atomwaffenarsenal der USA auch in Deutschland. Und da gibt es noch was: Die Anmaßungen der Ukraine, die mit ihren Nötigungen die Gefahr eines dritten Weltkriegs ignoriert. Lesen Sie den redaktionell geänderten Kommentar von Marco Carini, der Mopo entnommen.

Aufrüstung scheint für die CDU und SPD die einzig richtige Reaktion auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine zu sein. Selbst die Debatte darum ist verpönt, was die Grünen strikt beherzigen. Hier lesen Sie in aller Kürze, warum militärische Aufrüstung kurz- und mittelfristig nichts ändert und langfristig die tatsächliche Zeitenwende fördert, nämlich die unwiderrufliche Zerstörung unserer Erde..

100 Milliarden Euro zusätzlich und Aufstockung des Rüstungshaushalts

Der Impuls scheint naheliegend. „Deutschland muss massiv aufrüsten“, erklärte CDU-Fraktionschef Dennis Thering am Mittwoch in der Bürgerschaft in Hamburg und lobte die Initiative von Bundeskanzler Scholz, 100 Milliarden Euro zusätzlich in den Rüstungshaushalt zu pumpen, und diesen zudem auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzustocken, was einer Steigerung um 40 Prozent entspricht. Das sei so eindeutig „richtig, dass wir das heute hoffentlich nicht diskutieren müssen“, belegte Thering sein Kanzler-Lob mit einem Denkverbot. Sein SPD-Amtskollege, Dirk Kienscherf, pflichtete Thering mit dem Wunsch bei, „dass Hamburgs Bundestagsabgeordnete die dafür notwendige Grundgesetzänderung auch unterstützen.“ Denn um die Rüstungsmilliarden locker zu machen, muss die sonst ja so wichtige Schuldenbremse per Grundgesetzänderung ausgehebelt werden.

Militärische Aufrüstung in Deutschland alternativlos?

Erstaunlich schweigsam geben sich die Grünen, die angeblich von Scholz’ 100-Milliarden-Offerte ein wenig überrascht wurden. Die Partei, historisch tief in der Friedensbewegung und im Patriotismus verwurzelt, traut sich nicht einmal, die größte Aufblähung des Wehretats in der Nachkriegszeit öffentlich auch nur zu diskutieren. Die Hamburger Grüne Jenny Jasberg bemerkte in der Bürgerschaft nur, dass die „militärische Aufrüstung allein die Welt nicht retten werde“, was zuvor allerdings auch niemand behauptet hatte. Sprachlos angesichts der radikalen Wende der deutschen Sicherheitspolitik betreiben die Grünen eine konsequente Selbstverzwergung.

Diese Sprachlosigkeit wird von außen befeuert, schon 1914 galten die Sozialdemokraten, die den damaligen Kriegskrediten nicht zustimmten, den anderen Parteien als „vaterlandslose Gesellen“ – der Konflikt zerriss damals die SPD. Heute heißt es bei Thering: „Wenn ich höre, dass Teile der Grünen und auch der SPD sich vom Bundeskanzler distanzieren, dann wird mir angst und bange. Sie müssen jetzt endlich ihre Truppe geschlossen auf diesen Kurs einstimmen.“

Dass die Abgeordneten die größte sicherheitspolitische Kehrtwende seit Jahren nur abnicken sollen, statt eine dringend notwendige Debatte zu führen, belegt das verkürzte Demokratieverständnis des CDU-Chefs.

Massive Aufrüstung der Bundeswehr würde nichts verändern

Aufrüsten, um Putin zu stoppen – und alle machen mit. Nur die Fraktionsvorsitzende der Linken, Cansu Özdemir, hinterfragte im Rathaus, ob das wirklich zielführend ist. „Wenn die Bundeswehr heute schon in dem Zustand wäre, den sie sich wünschen, gäbe es dann eine andere Handlungsoption für Deutschland in diesem Konflikt?“, stellte sie die zentrale Frage, um dann selbst die Antwort zu geben: „Nein“. Auch mit einer Bundeswehr im Tip-Top-Zustand, würde Deutschland nicht militärisch in der Ukraine eingreifen, sondern es wie die anderen hochgerüsteten Nato-Partner bei wirtschaftlichen Sanktionen belassen.

Eine bereits erfolgte massive Aufrüstung der Bundeswehr hätte aktuell und in naher Zukunft nichts, aber auch gar nichts geändert.

Denn das Problem besteht nicht darin, dass die NATO rüstungspolitisch abgehängt ist: So ist Russland im Vergleich der Rüstungsausgaben weltweit inzwischen auf Platz 6 zurückgefallen. Putins Verteidigungshaushalt ist kleiner als der von Frankreich. Die USA investiert heute mehr als acht Mal so viel Dollar – über 600 Millionen – in die Rüstung wie Russland. Doch, obwohl die militärische Überlegenheit des Westens so groß ist wie nie zuvor, marschieren russische Streitkräfte auf Kiew.

Rüstungskonzerne profitieren

Klar ist: Es droht eine Aufrüstungsspirale wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Russland und auch andere nicht demokratisch regierte Staaten werden versuchen mitzuhalten, und eine Welt mit mehr Waffen auf allen Seiten wird unsicherer sein als die heutige. Schon bevor Putins Armeen in der Ukraine einmarschierten, warnte das Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik: „Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit hat ein neues Zeitalter des Wettrüstens begonnen, dieses Mal mit noch schlagkräftigeren Bomben“ als im Kalten Krieg der siebziger und achtziger Jahre.

Wer zusätzlich zu den USA davon profitiert, ist klar. Während die Börse aufgrund des russischen Ukraine-Einmarschs kollabierte, schnellten die Aktien der Rüstungskonzerne in Höhe: Rheinmetall konnte zwischenzeitlich einen Kursgewinn von 80 Prozent verzeichnen, ThyssenKrupp liegt ebenfalls deutlich im Plus. Die eingeplanten Rüstungsmilliarden aber fehlen an anderer Stelle: Für eine bessere Bezahlung des Pflegepersonals oder für den Kampf gegen den Klimawandel.

(c) dpa
Panzer

Militärische Aufrüstung ist eine mögliche Reaktion auf den russischen Einmarsch – aber keine besonders intelligente und auch mittelfristig ohne den erhofften Nutzen. Stattdessen erfolgt eine Militarisierung der Kommunikation. So steinig der Weg auch scheint: Es hilft nur die Rückkehr zu Diplomatie und Völkerrecht bzw. deren Beibehaltung, gepaart mit befristeten Sanktionen.

Was militärische Drohkulissen betrifft, sollten wir gar nicht erst versuchen, mit dem Feuer zu spielen.

Dazu:

Der stellvertretender Abendblatt-Chefredakteur Matthias Iken über die aktuelle Haltung Deutschlands zum Ukraine-Krieg und mögliche Waffenlieferungen, HA vom 4.6.2022.

Hamburg. Vielleicht geht es Ihnen wie mir – ich kann den rasanten Zeitenwenden, abrupten 180-Grad-Drehungen und krassen Kurswechseln kaum noch folgen. Mir ist ein wenig schwindelig. Und ich gestehe: Ich verstehe die Welt nicht mehr. Vielen anderen geht es vermutlich ähnlich, was sie aber nicht daran hindert, uns die Welt trotzdem jeden Tag aufs Neue zu erklären Auch in meinen Berufsstand soll das gelegentlich vorkommen.

Bis zum 24. Februar hielten wir alle einen Krieg in Europa für unmöglich, nun hören wir plötzlich ganz neue Losungen. Wenn heute irgendwo ein Russe als Forscher, Musiker oder Filmemacher auftritt, steht er schnell am Pranger. Völkerverständigung ist etwas von vorgestern, heute betreiben wir Sippenhaft. Die, die einstmals voller Inbrunst den Wehrdienst verweigerten, können heute nicht leichtfertig genug schwere Waffen in Kriegsgebiete liefern. Jene, die schon jedes schwarz-rot-goldene Fähnchen für einen gefährlichen Rückfall in dunkle Zeiten hielten, können nicht schnell genug ihre blau-gelbe Fahne in den Wind hängen. Und solche, die bis vor Kurzem im Klimawandel den Untergang der Menschheit sahen, finden jede Angst vor einem Atomkrieg übertrieben.

Nicht von Emotionen mitreißen lassen

Für all diese Positionswechsel gibt es gute Gründe und starke Argumente – und doch ist es wichtig, dass man kurz beiseitetritt, wenn die Massen plötzlich in eine andere Richtung stürmen. Bei aller berechtigten Empörung über Putins Angriffskrieg, bei aller Wut über diesen Rückfall in finstere Zeiten, bei aller Trauer über die Tausenden von Toten, wir sollen und dürfen uns nicht von unseren Emotionen mitreißen lassen. Besonnenheit ist keine Feigheit, Zögern kein Zaudern, zu warten kein Trödeln. Wer aus der Eskalationsspirale hinauswill, muss innehalten.

Leider dominiert hierzulande eine Radikalität, die schon diese These ungebührlich, ja ungeheuerlich findet. Die Stimmung erinnert an den Satz von Papst Hadrian VI.: „Fiat iustitia et pereat mundus!“ Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die als Verteidigungsministerin die Bundeswehr wahrhaft grandios mit Kasernenkitas und dem Abhängen von Helmut-Schmidt-Fotos auf die Zeitenwende vorbereitet hatte, erinnert heute ein wenig an Hadrian. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholt sie den Satz, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss. Wie ein Sieg auf dem Schlachtfeld gegen eine Atommacht aussehen soll, verrät sie nicht. Wie weit dieser Sieg gehen wird, auch nicht – reicht die Befreiung der besetzten Gebiete im Osten oder darf es ein bisschen mehr sein, etwa die Rückeroberung der Krim? Wohin führen ständig neue Waffenlieferungen? Hoffentlich zu einem Ende des Krieges, wahrscheinlicher aber zu seiner Verlängerung.

Verantwortungsethik befindet sich auf dem Rückzug

Bundeskanzler Olaf Scholz, der stets betont, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf, muss sich hingegen für diesen Satz entschuldigen. Es schlägt die Stunde der Gesinnungsethiker, die Verantwortungsethik befindet sich auf dem Rückzug. Man klopft sich stolz auf die Schulter, weil die EU ein Ölembargo gegen Russland verhängt hat: Das klingt gut, tut dem Kriegstreiber Putin aber nicht weh: Er kann sein Öl recht problemlos in Indien oder China verkaufen und den dafür nötigen Preisabschlag von rund einem Drittel verkraften – denn seit Weihnachten ist der Ölpreis um 56 Prozent gestiegen. Es ist die perverse Logik des Krieges: Er finanziert sich quasi von selbst. Die Kosten werden den Europäern noch richtig wehtun. Wenn die dramatischen Preissteigerungen soziale Verwerfungen auslösen, werden auch wir einen verdammt hohen Preis bezahlen. Es ist nicht unmoralisch, die eigenen Interessen im Blick zu halten – es ist sogar die Aufgabe, die der Amtseid jedem Kanzler auferlegt.

Es ist höchste Zeit, den seit 100 Tagen tobenden Krieg zu beenden. Er bringt nicht nur Unheil über die Ukraine, sondern auch über Russland und über Europa. Es gilt, diesen Konflikt von seinem Ende her zu denken. Auch wenn wir uns alle einen Regimewechsel in Moskau wünschen mögen, liegt dieser wahrscheinlich außerhalb unserer Möglichkeiten. Und wir sollten nicht vergessen, was dieses hehre Ziel im Irak oder in Libyen an Verheerungen ausgelöst hat. Immer mehr Waffen werden keinen Frieden schaffen. Das vermag nur die Diplomatie. So viel zumindest meine ich noch zu verstehen.