Asoziale Marktwirtschaft

Ein ehrbarer Kaufmann wie Michael Otto mit seiner Forderung zur  Rückbesinnung auf die soziale Marktwirtschaft gehört zu den Unternehmern, die sich ihrer Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewußt sind. Das Arm und Reich nichts mehr gemein haben und dieser Zusammenhalt zerbröselt, belegt das Schlangestehen für ein Frühstück. Lesen Sie die Artikel von Oliver Schade und Jens Meyer-Odenwald, dem Hamburger Abendblatt entnommen.

Hamburg. Wenn Michael Otto über Ethik in der Wirtschaft spricht, ist der Eigentümer und Aufsichtsratsvorsitzende des Hamburger Versandhändlers Otto Group in seinem Element. „Es ist viel Vertrauen in die Wirtschaft verloren gegangen“, sagt der 70-Jährige und erinnert die rund 90 Zuhörer im voll besetzten Hafen-Klub an die Banken- und Finanzkrise. Viele Menschen würden Unternehmer nur mit „überzogenen Gehältern und Steuerhinterziehung“ in Verbindung bringen. Dabei arbeite der überwiegende Teil der Firmen „sehr seriös“. Aber es gebe eben schwarze Schafe, gerade im Finanzbereich. Otto formuliert seinen Wunsch ohne Umschweife, klar und deutlich: „Es muss eine Rückbesinnung auf die soziale Marktwirtschaft geben. Denn der soziale Kitt in unserer Gesellschaft ist brüchig geworden.“

Inhaltsverzeichnis

Ehrbarer Kaufmann

Er will seinen Appell nicht nur für Deutschland verstanden wissen. Denn der Blick rund um den Globus stimmt ihn nachdenklich. Wegen der Banken- und Schuldenkrise würden die öffentlichen Haushalte weltweit ihre Ausgaben drosseln, es stünde damit weniger Geld für Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau zur Verfügung. „In vielen Regionen der Welt droht der Traum von einem besseren Leben zu platzen“, befürchtet Otto.

Den Finanzmärkten und vor allem den vielen nur für Fachleute durchschaubaren Finanzprodukten traut der Hamburger Ehrenbürger nicht. Auf dem Höhepunkt der Bankenkrise hätten zwar viele Politiker und Wirtschaftsvertreter eine Zügelung der Finanzmärkte versprochen, doch geschehen sei wenig. Otto hat dafür kein Verständnis und verlangt: „Alle Finanzprodukte müssen auf ihren Sinn für die reale Wirtschaft hin überprüft werden.“ Es müsse Schluss sein mit undurchschaubaren Papieren, die nur als Ziel haben, den Reichtum Einzelner zu mehren. Denn schließlich müsse die Wirtschaft den Menschen dienen. Otto erinnert an den Ehrbaren Kaufmann, das in Europa über Jahrhunderte gewachsene Leitbild eines verantwortungsvollen Unternehmers – und er konkretisiert es: „Redlich, aufrichtig, anständig und vertrauensvoll“ solle man agieren.

Ökonomie und Ökologie

Doch Otto geht es an diesem Abend nicht nur um soziales Handeln, er wirbt zugleich für mehr Ökologie in der Ökonomie. So spiele der Klimaschutz aus seiner Sicht heute leider nicht mehr die Rolle für Wirtschaft und Politik, welche angemessen und notwendig wäre mit Blick auf die globale Erwärmung. Im Zuge der Schulden- und Euro-Krise gehe der Blick für notwendigen Umwelt- und Ressourcenschutz verloren. Otto erzählt von Kriegen um kostbares Wasser in Afrika. Er erinnert daran, dass 60 Prozent der Weltmeere überfischt sind und die CO2-Emissionen immer weiter steigen – trotz unzähliger Klimakonferenzen. Der Umweltschutz liegt ihm am Herzen. Bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren widmete er sich als Otto-Vorstandschef ganz praktisch diesem Thema. Er holte Lieferanten an einen Tisch, einigte sich mit ihnen auf ökologische und soziale Mindeststandards bei der Produktion von Textilien. Er gründete eine nach ihm benannte Stiftung für Umweltschutz und bekam bereits im Jahr 1997 den Deutschen Umweltpreis. Weitere renommierte Auszeichnungen folgten.

Fairer Handel

Otto ist ein Überzeugungstäter, das zeigt sich auch an der von ihm gegründeten Stiftung Cotton made in Africa. Sie unterstützt mittlerweile 480.000 Kleinbauern in sieben afrikanischen Ländern, die sich verpflichtet haben, Baumwolle nach sozialen und ökologischen Mindeststandards zu produzieren. Renommierte Unternehmen wie Puma, C&A oder Rewe konnte Otto für diese Idee begeistern. Sie verarbeiten die faire Baumwolle in der von ihnen produzierten und gehandelten Kleidung – die Otto Group selbstverständlich auch. Michael Otto ist offensichtlich ein guter Kommunikator, kann überzeugen. Denn er macht klar, dass ein Unternehmen alleine nur wenig verändern könne. Man brauche Allianzen, die er mit sehr unterschiedlichen Managern, die für sehr unterschiedliche Interessen standen, geschmiedet hat. Dies sei nicht immer einfach gewesen, gibt Otto zu.

Am Ende seines rund 40 Minuten langen Vortrags gibt er allen Unternehmern noch den zentralen Satz mit auf den Weg, welcher alles Gesagte auf eine Kernbotschaft reduziert: „Jeder sollte tagtäglich die Wirkung seines Handelns auf Mensch und Natur überprüfen.“

Vermoegensverteilung

Schlangestehen für ein Frühstück

Hamburg. Kurz vor 9 Uhr mitten in Hamburg. Von wegen geruhsamer Sonntag. Wer den Högerdamm Richtung Elbbrücken entlangbraust, wundert sich über einen Menschenauflauf. Vor dem Haus Nummer 23 stehen Bedürftige Schlange nach einem kleinen, kostenlosen Frühstück. Kommen die Gäste nach langer Wartezeit an die Reihe, freuen sie sich über belegte Brote und warmen Hagebuttentee. 40 Sitzplätze in den beiden kargen, blitzsauberen Räumen sind rasch belegt. Auch in den Ecken herrscht Gedrängel. Und draußen auf dem Bürgersteig warten noch mehr als 30 Personen. Wer hier ansteht, ist in Not.

So wie Marcel Stärke. Der 26-jährige Berliner, ein kerniger Typ mit kräftiger Statur, lebt seit eineinhalb Jahren in Hamburg. Sein Zuhause ist die Straße. Das Winternotprogramm der Stadt bietet ihm in den kalten Monaten Übernachtungen in der Spaldingstraße ein paar Fußschritte entfernt. Das sonntägliche Frühstück im Hilfspunkt Högerdamm nutzt er regelmäßig. Seit ein paar Wochen jedoch platzt die kleine Wohltätigkeitsstation in Hammerbrook aus allen Nähten: Besonders Flüchtlinge aus Osteuropa sorgen dafür, dass sich die Gästezahl verdreifacht hat. Für Herzenswärme, Zuspruch und einen kurzen Klönschnack ist kaum Zeit mehr.

Ehrenamtlicher Einsatz

Vier ehrenamtliche Helferinnen hinter der Theke haben alle Hände voll zu tun, dem Andrang Herr zu werden. Heute haben Nadine, 30, Rechtsanwältin aus Eimsbüttel, BWL-Studentin Sarah, 23, sowie die 21-jährige Viktoria aus Harvestehude freiwilligen Dienst. Emsig schmieren sie Brot, kochen Tee, waschen ab, beantworten Fragen. Konzentriert, kompetent und mit viel Herz wird gearbeitet. Teamleiterin Ulrike Rothe aus Wandsbek, hauptberuflich Lohn- und Gehaltsbuchhalterin, hat schon am Freitag groß eingekauft: 30 Misch- und zehn Toastbrote, bergeweise Salami und Schnittkäse, zudem Schmalz, Butter, Marmelade, Nutella, Gewürzgurken und Teebeutel. Alles bezahlt von Spendengeldern.

„Jeder Euro macht Sinn“, weiß Frau Rothe. Seit gut einem Jahr engagiert sie sich im eingetragenen Verein Hilfspunkt für Menschen, die es wahrlich nötig haben. Einige der Stammkunden kennt sie seit Langem. Doch für mehr als ein liebes Wort bleibt heute keine Zeit. Leider. Zu groß ist der Ansturm. So wie immer am Sonntag zwischen 9 und 11Uhr. An acht Standorten in Hamburg teilen 130 Ehrenamtliche unterschiedlichen Alters und aus allen möglichen Berufen Frühstück, Mittagessen oder Suppe aus. 22.000 Portionen waren es im Vorjahr.

Der Bedarf ist größer, doch mangelt es an Geld und passenderen Räumlichkeiten. Das angemietete Ladenlokal am Högerdamm ist eine Ausnahme. Normalerweise nutzt Hilfspunkt e. V. kostenfrei andere soziale Einrichtungen – besonders am Wochenende. Organisiert werden außerdem Malkurse, Werken, Filmabende und auch Kinderprojekte.

„Wir arbeiten mit benachteiligten Menschen und bemühen uns nach Kräften, einen Beitrag zur Linderung der Armut zu leisten“, sagt Gabriele Franz. Die promovierte Psychotherapeutin rief die Aktion 1993 gemeinsam mit der Diplom-Soziologin Gisela Thun ins Leben. Ehrenamtliche Helfer und private Spender machen mit. Vereinzelt stehen auch Firmen Pate. Die Praxis von Gabriele Franz fungiert als Hilfs-Büro. Das spart Geld.

Bei aller Nächstenliebe und anpackender Hilfsbereitschaft stoßen die Mitarbeiter an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Unruhe und Handgreiflichkeiten unter den Gästen am Högerdamm nehmen zu. Gut 130 Besucher standen an diesem Sonntag Schlange.

Die Mehrheit stammt aus Rumänien und Bulgarien. Kaum einer kann Deutsch. Mirko, Roma aus der bulgarischen Kleinstadt Haskovo, spricht ein paar Brocken. „Ich will arbeiten, egal was, finde aber nichts“, sagt er und deutet auf seine muskulösen Oberarme. Seine Kumpels am Tisch nicken zustimmend. Allesamt machen sie einen anständigen Eindruck. Den meisten einheimischen Stammgästen, die sich neuerdings in die Ecke gedrängt fühlen, sind diese Menschen fremd. Der aktuelle Andrang verwundert sie. Doch wer Hunger und keinen Euro in der Tasche hat, stellt keine Fragen.

Hunger im reichen Hamburg

Not leiden sie alle. Auch der Hamburger Heino Strick, der früher zwölf Jahre als Hausmeister in Mümmelmannsberg arbeitete und kein Zuhause mehr hat. Mit seiner Begleiterin Christine, die eine St.-Pauli-Mütze trägt, kommt er jeden Sonntag in den Hilfspunkt Högerdamm. Man schätzt die Wärme hier. So und so.

„Ich bin fassungslos“, meint Frau Franz angesichts eines „dramatischen Zuwachses an Hilfesuchenden“. „Wie kann es sein, dass der Staat viele Millionen Euro in Großprojekte investiert, aber nicht für die Nahrungsmittelversorgung von Menschen aufkommt, die über eine geltende EU-Gesetzgebung ins Land kommen?“ Kontakte zum Bezirksamt Mitte und ins Büro des Sozialsenators hätten außer warmen Worten nichts Konkretes bewirkt.

 Hinweis

Wohltätigkeit ist kein Ersatz für politisches Handeln. Leider wird nicht nur nicht gehandelt, es fehlt auch an der Unterstützung für ehrenamtliches Engagement, weil mit diesem Einsatz Versäumnisse offensichtlich werden, die nicht öffentlich werden sollen. Grundlegende Verbesserungen sind daher trotz des vorbildlichen ehrenamtlichen Einsatzes nicht zu erwarten.

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