Armut und Corona

Es wäre notwendig und überfällig, in der Pandemie den Hartz-IV-Satz um mindestens 200 Euro zu erhöhen, um wenigstens die materiellen Nöte zu lindern. Tatsächlich werden die Nöte der Armen in der Krise ignoriert, weil für sie nichts getan wird. Damit bestätigt sich, was ohnehin bekannt sein sollte: Armut ist gewollt. Lesen Sie den gekürzten und redaktionell geänderten Beitrag von Anna Mayr, ZeitOnline entnommen.

Schlimm genug, dass es Tafeln gibt in einem Land wie diesem. Dass also Menschen, denen der Staat ein sogenanntes „Existenzminimum“ zum Überleben garantiert, auf diesem Minimum nicht überleben können – und dass das ausgeglichen wird dadurch, dass sie sich einmal in der Woche in eine Schlange stellen, damit ihnen jemand Müll in eine Tüte steckt.

Ja, es ist Müll. Es sind Nahrungsmittel, die aussortiert wurden, weil man sie nicht mehr verkaufen kann.

Tafeln geben uns durchs Müllverteilen das wohlige Gefühl, dass für die Armen gesorgt ist. Das macht sie jedoch zum Teil des Problems. Denn sie beruhigen eine Gesellschaft, die sich eigentlich empören müsste.

Eine moderate Forderung

Arme Menschen haben überdurchschnittlich häufig Vorerkrankungen, sie haben oft ein schwächeres Immunsystem. Arme Familien leben in Wohnungen, in denen Quarantäne unmöglich ist. Sie können es sich nicht leisten, zusätzlich FFP2-Masken für 4,50 Euro zu kaufen, sie können sich eigentlich überhaupt keine Masken kaufen, denn für rezeptfreie medizinische Erzeugnisse stehen ihnen im Monat genau 2,50 Euro zu. Durch die Pandemie trauen sich viele nicht mehr zu den Tafeln, gleichzeitig fallen andere Strukturen und soziale Kontakte ebenfalls weg.

Armut wird ignoriert

Das Virus bedroht arme Menschen also besonders. Und während der Rest der Bevölkerung Kurzarbeitergeld bekommt oder Steuererleichterungen fürs Homeoffice, sind die Armen seit Beginn der Pandemie kaum weiter besprochen worden. Kürzlich wurde sogar der Hartz-IV-Satz im Bundestag diskutiert, es gab einen mickrigen Inflationsausgleich, niemand interessiert sich dafür.

 Dabei wäre eine Hartz-IV-Aufstockung verwaltungstechnisch recht einfach. Denn es gibt bereits eine Regelung in den Hartz-Gesetzen, die sich „Sonderbedarf“ nennt. Dieser ist dazu da, in „außergewöhnlichen Lebenslagen“ oder einer „Notsituation“ auszuhelfen. Einen genauen Rahmen dafür, was als Sonderbedarf gilt, gibt es nicht. Er wurde aber in der Vergangenheit bereits für rezeptfreie Medikamente und andere medizinische Produkte bewilligt. Es gibt also bereits einen Hebel, um armen Menschen das Leben leichter zu machen. Man müsste ihn nur umlegen.

Sparen ist kontraproduktiv

Es ist sinnlos, wenn Staaten in einer Krise sparen, und es ist vor allem sinnlos, wenn sie bei den ärmsten Familien sparen. Denn je ärmer Menschen und ihre Kinder heute sind, desto kränker, ärmer und verlorener sind sie übermorgen. Die Folgekosten der Armut, das verlorene Potenzial, müssen kommende Generationen auf jeden Fall tragen, davor sollte man sich tatsächlich fürchten. Vor Staatsschulden hingegen muss man sich nicht fürchten, denn die sind jetzt dazu da, Volkswirtschaften und die Menschen darin vor der Zerstörung zu bewahren. Die europäische Zentralbank kann Geld drucken, wenn in einer Phase zu wenig davon da ist, aber sie kann keine Menschenleben drucken.

Armut ist gewollt, Reichtum auch

Je reicher man ist, desto mehr profitiert man von den Pandemiehilfen der Bundesregierung. Menschen mit hohen Gehältern bekommen mehr Kurzarbeitergeld als Menschen mit niedrigen Gehältern, und Vermieter können sich glücklich schätzen, dass der Staat die Zahlungen an sie ersetzt. Dass der Hebel trotzdem nicht umgelegt wird, dass arme Menschen bei allen Pandemiehilfen abgesehen vom Kinderzuschlag außer Acht gelassen werden, zeigt, was sowieso klar war: Armut ist kein Zufall. Armut ist erwünscht.

Armut ist dazu da, denjenigen Angst zu machen, die sich trotz des Virus jeden Morgen in den Bus setzen müssen, in die U-Bahn steigen, um Häuser zu bauen oder Produkte zu kassieren oder Kinder zu betreuen. Sie alle sollen sich davor fürchten, ihren Job zu verlieren, mehr als davor, sich im Job mit einer potenziell tödlichen Krankheit anzustecken. Diese Logik gab es schon vor der Pandemie: Menschen arbeiten weiter, obwohl die Bedingungen ihrer Arbeit unwürdig sein mögen. Weil sie wissen, dass Hartz IV noch schlimmer wäre.

In der Pandemie ist nun alles noch viel schlimmer, potenzierter, weil es nicht mehr nur um alltägliches Leid geht, sondern um Leben und Tod.