Ambulant vor stationär

Die Weiterentwicklung amulanter Operationen in den Krankenhäusern, die die bisher schon bestehenden Möglichkeiten ambulanter Operationen erweitert, führt zwar nicht zum Vorrang ambulanter vor stationärer Behandlung, sollte aber dazu führen, dass ambulante Behandlungen weiter ausgebaut werden können. Dieser Vorrang muss jedoch für die ambulante Pflege der Pflegebedürftigen gelten.

Der GKV-Spitzenverband, die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) haben sich auf die Weiterentwicklung des Katalogs für ambulante Operationen (AOP-Katalog) geeinigt und den aktualisierten AOP-Vertrag unterzeichnet. Zudem wurde der AOP-Katalog um 208 OPS-Kodes erweitert. Die Ambulantisierung in Deutschland wird so einen weiteren Schritt vorangebracht. Ab dem 1. Januar 2023 haben GKV-Versicherte einen Anspruch auf fast 3.100 Leistungen, die ambulant im Krankenhaus oder bei der niedergelassenen Ärzteschaft durchgeführt werden können.

Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands: „Mit der Weiterentwicklung des AOP-Katalogs haben die Selbstverwaltungspartner den Grundstein für die Ambulantisierung gelegt. Der Reformprozess ist angestoßen, die erste Umsetzungsstufe ist erreicht. Die Patientinnen und Patienten profitieren hier jetzt von einer bedarfsgerechten und qualitätsgesicherten Versorgung. Für uns ist das ein guter Start ins Reformjahr 2023.“

Mehr ambulant – weniger stationär

In deutschen Krankenhäusern werden zu viele Eingriffe, beispielsweise arthroskopische Operationen oder Leistenbruchoperationen, stationär erbracht, obwohl sie ambulant durchgeführt werden könnten. Dies ist eine unnötige persönliche Belastung für Patientinnen und Patienten, für die knappen Personalkapazitäten im Krankenhaus sowie die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung. Ziel der Reform ist es, die vorhandenen Ressourcen im Gesundheitswesen besser zu nutzen und den internationalen Rückstand Deutschlands beim ambulanten Operieren aufzuholen.

Der Bundesgesetzgeber hatte die gemeinsame Selbstverwaltung beauftragt, auf der Basis eines wissenschaftlichen Gutachtens des IGES Instituts eine Erweiterung des bestehenden AOP-Katalogs zu vereinbaren. Nach Aussagen der Gutachter könnten die aktuellen Leistungen des AOP-Katalogs um fast 90 Prozent erweitert werden.

Neue AOP-Leistungen definiert

Neben den neuen AOP-Leistungen wurden im AOP-Vertrag u. a. sogenannte Kontextfaktoren (z. B. Pflegegrad oder bestimmte Begleiterkrankungen) definiert, die auch den individuellen Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten berücksichtigen. So kann im Einzelfall entschieden werden, ob eine ambulante oder eine stationäre Behandlung erforderlich ist. Diese klaren Kriterien unterstützen zudem die Abrechnungsprozesse zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern.

Vergütung der AOP-Leistungen angepasst

Verbunden mit der AOP-Katalogerweiterung wurde zudem die Vergütung von AOP-Leistungen angepasst. Eine erste Differenzierung der Vergütung wird umgesetzt. Diese bildet insbesondere einen erhöhten Aufwand in der Patientenversorgung bei Reoperationen über einen Vergütungsaufschlag ab. Darüber hinaus wurden Nachbeobachtungszeiten verlängert: Jetzt wird eine Überwachungszeit der Patientinnen und Patienten – abhängig von Eingriff bzw. Alter oder Vorerkrankungen bis zu insgesamt 16 Stunden ermöglicht.

Nächste Schritte

Die vorliegende Neufassung des AOP-Vertrags wurde auf Grundlage des im April 2022 veröffentlichten Gutachtens des IGES Instituts erarbeitet. Damit haben die Vertragsparteien die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags vom 14. Dezember 2019 begonnen. Unmittelbar nach Abschluss des jetzt unterzeichneten Vertrags werden die Vertragsparteien den gesetzlichen Auftrag gemäß § 115b SGB V abschließen.

 s.auch:  Ambulantes Operieren nach § 115b SGB V

Ambulante Pflege überwiegt

Im Dezember 2021 waren in Deutschland 4,96 Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI). Die starke Zunahme der Pflegebedürftigen erfolgt durch die Einführung des weiter gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriffs ab dem 1. Januar 2017. Die drei Pflegestufen, die bis Ende 2016 den Bezug von Pflegeleistungen für pflegebedürftige Patienten geregelt haben, sind zum Jahresbeginn 2017 von fünf Pflegegraden abgelöst worden. Auch die Berechnungsgrundlage für die neuen Pflegegrade wurde geändert: Nicht mehr der zeitliche Aufwand für die tägliche Pflege, sondern der tatsächlich vorhandene Grad der Selbstständigkeit entscheidet nun über die Einstufung in einen Pflegegrad.
Beim (neuen) Pflegegrad 1 liegt ein abweichendes Leistungsrecht vor, insbesondere erhalten die Pflegebedürftigen kein Pflegegeld.

Ambulant vor stationär

Etwa fünf von sechs Pflegebedürftigen (84 % bzw. 4,17 Millionen) wurden im Dezember 2021 zu Hause versorgt. Davon erhielten 2,55 Millionen Pflegebedürftige ausschließlich Pflegegeld und wurden überwiegend durch Angehörige gepflegt. Weitere 1,05 Millionen Pflegebedürftige lebten ebenfalls in Privathaushalten und wurden zusammen mit oder vollständig durch ambulante Pflege- und Betreuungsdienste versorgt.

Ebenfalls zu Hause versorgt wurden weitere 0,56 Millionen Pflegebedürftige im Pflegegrad 1. Davon erhielten 0,03 Millionen ausschließlich Entlastungsleistungen landesrechtlicher Angebote. Die übrigen 0,53 Millionen Pflegebedürftigen im Pflegegrad 1 haben im Dezember 2021 keine Sachleistungen von Pflegeheimen oder ambulanten Diensten genutzt. Ob diese Personen weitere Hilfeleistungen abgerufen haben, wird in der Pflegestatistik nicht erfasst.

Rund ein Sechstel der Pflegebedürftigen (16 % bzw. 0,79 Millionen) wurde in Pflegeheimen vollstationär betreut. Ein Drittel der Pflegebedürftigen 85 Jahre und älter

Leistungen Pflegegrad 1

Ende 2021 waren 79 % der Pflegebedürftigen 65 Jahre und älter, ein Drittel (33 %) war mindestens 85 Jahre alt. Die Mehrheit der Pflegebedürftigen war weiblich (62 %). Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden. Während bei den 70- bis 74-Jährigen rund 9 % pflegebedürftig waren, wurde für die ab 90-Jährigen mit 82% die höchste Pflegequote ermittelt.

Die Leistungen im Pflegegrad 1 sind in § 28a SGB XI geregelt. Sie beinhalten neben den Leistungen der ambulanten Dienste und Pflegeheime oder der nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag auch weitere Leistungen, die in der Pflegestatistik nicht betrachtet werden, wie zum Beispiel Beratung, Pflegekurse, Pflegehilfsmittel oder Verbesserungen des Wohnumfeldes. Aufgrund des abweichenden Leistungsrechts erhalten Pflegebedürftige des Grades 1 insbesondere kein Pflegegeld.
Die Leistungen der Pflegeversicherung für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 konzentrieren sich somit darauf, die Selbstständigkeit der Betroffenen durch frühzeitige Hilfestellungen möglichst lange zu erhalten und damit den Verbleib in der vertrauten häuslichen Umgebung zu gewährleisten.

Kommentar

Die weiter steigende Lebenserwartung wird dazu führen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen wird. Leider muss auch damit gerechnet werden, dass die stationäre Pflege zunimmt, weil viele Angehörigen, die die Pflegeleistung bisher erbringen, künftig nicht mehr verfügbar sein werden. Gründe sind u.a. die höhere Lebenserwartung von Frauen, denen weder Ehegatten noch Familienangehörige helfen können, weil sie nicht mehr vor Ort sind.
Eine solche Entwicklung ist mit einem selbstbestimmten Leben nicht vereinbar und muss daher rechtzeitig zu Maßnahmen führen, die den Vorrang ambulanter Behandlung sicherstellen.

Folgende Maßnahmen bieten sich an:

1.Bei der Pflegeversicherung hat der Grundsatz „ambulant vor stationär“ nur deswegen bisher Vorrang, weil die Familienangehörigen ganz oder zum Teil die Hilfeleistungen selbst erbringen. Wenn dieser Grundsatz weiter gelten soll, der alternativlos ist, muss die ambulante Versorgung finanziell bessergestellt werden. Dazu gehört, dass auch Personen mit dem Pflegegrad 1 ein Pflegegeld erhalten. Maßstab muss im übrigen der weitgehende Erhalt der Selbstständigkeit sein. Die Entscheidung über die Art der Versorgung (ambulant oder stationär), muss den Pflegebedürftigen überlassen sein und nicht irgendwelchen Betreuern.

2. Bei der Pflegeversicherung handelt es sich um eine Teilkasoversicherung. Sie gilt seit 1995. Vorausgegangen waren jahrelange Diskussionen darüber, ob die finanzielle Absicherung der Pflegekosten mit Steuern oder mit einer Versicherung erfolgen soll. Der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm, übrigens ein Sozialpolitiker der Extraklasse, hat die Versicherungslösung favorisiert und sich durchgesetzt.

Die Finanzierungsfrage stellt sich bereits jetzt angesichts des Defizits der Pflegeversicherung. Die Antwort könnte eine Vollversicherung sein, wie sie bei der Renten- und Krankenversicherung existent ist. Sie könnte aber auch eine gänzlich steuerfinanzierte Versorgung sein. Die dritte Möglichkeit ist die differenzierte Verbesserung der bisherigen Pflegeversicherung. Einige Maßnahmen sind bereits unter Punkt 1 genannt worden. Diese Verbesserungen sind einem Systemwechsel vorzuziehen.

3. Ohne qualifizierte Plegekräfte sind individuell angewendete Pflegleistungen sowohl in der amulanten als auch in der stationären Versorgung nicht möglich. Auch deswegen ist mit dem Pflegeberufegesetz die bisher iunterschiedliche Ausbildung in der Kranken- und Altenpflege vereinheitlicht worden. Die Abwertung der Altenpflege ist damit beendet. Die Ausbildung nach diesem Pflegeberufegesetz erfolgt seit dem 1.Januar 2020.

Gerade angesichts dieser vereinheitlichten Ausbildung ist es geradezu obszön, dass Pflegeassistenten und Pflegehelfer die ausgebildeten Fachkräfte aus Kostengründen verdrängen sollen, weil sie preiswerter sind. Diese Verdrängung hat bereits begonnen und führt qualifizierte Pflege ad absurdum.

Rolf Aschenbeck

Dazu die Auffassung des GKV-Spitzenverbandes:

Eine vernünftige Finanzpolitik wäre die solide Finanzierung der Pflegeversicherung“, so Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. Mit Blick auf die aktuellen Diskussionen über einen höheren Bundeszuschuss zum Ausgleich der versicherungsfremden Leistungen betonte er: „Die Koalition hat auch in anderen Bereichen ambitionierte Entscheidungen getroffen. Dann sollte sie auch bei der Pflege die Kraft aufbringen, einen vernünftigen, zukunftsweisenden Weg zu gehen. Es geht hier letztlich um einen Anspruch der Pflegebedürftigen an den Bundeshaushalt und nicht um irgendwelche Almosen.“

Gelebte Praxis guter Zusammenarbeit

Bei der guten medizinischen Versorgung der Pflegebedürftigen spielen die Hausärztinnen und Hausärzten eine zentrale Rolle. Dazu Gernot Kiefer im Interview: „Wir sehen, dass zunehmend mehr Hausärztinnen und Hausärzte in Kooperation mit Heimen und Pflegediensten die Versorgung der Pflegebedürftigen gewährleisten. Wir kommen also von der Theorie hin zu einer gelebten Praxis an guter Zusammenarbeit. Ich weiß auch, dass es für Ärztinnen und Ärzte nicht immer einfach ist, neben den üblichen Praxiszeiten eine heimärztliche Betreuung zu organisieren. Aber das Ganze geht in die richtige Richtung und bringt den Pflegebedürftigen viel.“

Bundesländer sind in der Pflicht

Die Eigenanteile der Heimbewohnenden steigen kontinuierlich an, allein rund 450 Euro entfallen pro Heimbewohnerin und Heimbewohner auf die Finanzierung von Investitionskosten, die eigentlich in der Verantwortung der Bundesländer liegen. „Das läuft letztlich auf eine Privatisierung und Individualisierung der Investitionskostenfinanzierung für die Menschen hinaus, die in Pflegeheimen leben. Es ist inakzeptabel, dass die Länder diese Finanzierungsverpflichtung faktisch auf pflegebedürftige Heimbewohnende abgeschoben haben“, so Kiefer im Gespräch mit der Ärzte Zeitung.

Dazu:

Bereits 2022 hat die Pflegeversicherung ein Defizit von 2,25 Milliarden Euro feststellen müssen. Für 2023 wird zusätzlich ein Fehlbetrag von rund 3,0 Milliarden Euro erwartet. Wesentliche Kostentreiber sind grmäß Redaktionsnetzwerk Deutschland(RND) die wachsende Zahl Pflegebedürftiger sowie steigende Ausgaben durch die gesetzlich vorgeschriebene Bezahlung der Pflegekräfte (Mindestlohn von 12 Euro).

Demgegenüber hat der Bund bisher die Mehrkosten durch die Corona-Pandemie in Höhe von insgesamt 5,5 Milliarden Euro nicht erstattet. Vor diesem Hintergrund hatten sich die Verbände der Kranken- und Pflegekassen sowie die großen Sozialverbände nach RND-Information in einem gemeinsamen Schreiben an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) gewendet und die Bundesregierung aufgefordert, das entstandene Defizit mit Steuermitteln auszugleichen.

Daraus ergibt sich, dass es das Defizit von insgesamt 5,25 Milliarden Euro nicht gäbe, wenn der Bund seiner Finanzverpflichtung nachgekommen wäre. Stattdessen sollen allein die Beitragszahler mit einer kräftigen Beitragssatzanhebung ab Juli 2023 zur Kasse gebeten, während sich der Bund aus der Verantwortung mogelt. Aber auch die Bundesländer entziehen sich wie bei den Krankenhäusern ihrer Verantwortung, weil sie die notwendigen Investitionskosten, die die Heime dringend benötigen, den Heimbewohnern aufbürden, statt ihrer finanziellen Verpflichtung nachzukommen.

Die Beitragszahler und die Heimbewohner werden für die fahrlässigen Versäumnisse von Bund und Ländern haftbar gemacht. Eine Besserung ist nur marginal in Sicht.