Ahnungslosigkeit der Gesundheitsminister

14 von 16 Bundesländern haben nach Recherchen von NDR, WDR und SZ keine Erkenntnisse darüber, welche Menschen sich besonders häufig mit Corona infizieren – und können daher nicht gezielt reagieren. Mediziner und Soziologen kritisieren diese Ahnungslosigkeit. Lesen Sie den gekürzten und redaktionell geänderten Bericht der Tagesschau vom 4.März 2021.

Wer im Berliner Bezirk Neukölln wohnt, hat offenbar ein fast doppelt so hohes Risiko, mit Corona infiziert zu werden als im benachbarten Treptow-Köpenick. Woran das liegt? Das weiß man nicht. Auffällig ist: In Neukölln leben auf einem Quadratkilometer 7000 Menschen, in Treptow 1600. In Neukölln liegt die Arbeitslosenquote bei 16 Prozent, in Treptow bei acht Prozent. Ähnlich sind die Unterschiede beim Haushaltseinkommen: In Neukölln beträgt es 1825 Euro im Monat, in Treptow-Köpenick 2200 Euro. In Neukölln haben 47 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner einen Migrationshintergrund, in Treptow nur 17 Prozent.

Sozialer Status unbekannt

„Wir wissen aus internationalen Studien, dass Menschen, die sozial benachteiligt sind, sich häufiger infizieren“, sagt Prof. Peter Sawicki, einer der Begründer der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, der heute als Arzt in Duisburg arbeitet. „Aber in Deutschland ist die Studienlage dazu sehr dünn.“ Weil man nicht wisse, wer sich infiziere, wisse man auch nicht, welche Gruppen man besser schützen müsse.

NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ haben alle Gesundheitsministerien in Deutschland gefragt, welche Erkenntnisse sie zum sozialen Status der Corona-Infizierten haben, wie groß die Haushalte sind, wie hoch das Einkommen ist, wie häufig sie einen Migrationshintergrund haben. 14 von 16 Bundesländern konnten keine dieser Fragen beantworten. Brandenburg teilte zum Beispiel mit: „Diese Daten liegen der Landesregierung nicht vor, weil sie nicht erhoben werden.“ Rheinland-Pfalz schrieb: „Diese Daten haben wir nicht.“ Sachsen teilte mit: „Zur sozialen Herkunft liegen uns keine Daten vor“ – und Thüringen schrieb: „Auch dazu haben wir keine Erkenntnisse.“ Nordrhein-Westfalen antwortete als einziges Bundesland gar nicht.

Hohes Infektionsrisiko und Harzt IV-Bezug

Der Medizinsoziologe Nico Dragano von der Universität Düsseldorf hat im ersten Halbjahr 2020 die Daten von knapp 1,3 Millionen AOK-Versicherten ausgewertet und festgestellt, dass Bezieher von Hartz-IV fast doppelt so oft wegen Corona ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten wie Erwerbstätige. Aber schon die Frage, welche Berufsgruppen möglicherweise stärker betroffen sind, kann Dragano nicht beantworten. Dabei ist er sich sicher: „Es würde uns weiterbringen, wenn wir die Menschen mit besonders hohem Infektionsrisiko besser eingrenzen könnten.“

Sozioökonomischer Hintergrund in anderen Ländern bekannt

Wer in Deutschland etwas wissen will über den sozioökonomischen Hintergrund von Infizierten, muss in die USA oder nach Großbritannien schauen. Die Infektiologin Muge Cevik von der schottischen St. Andrews Universität berät die britische Regierung in der Pandemie. Sie sagt: „Viel wichtiger als die Ausbreitung von Mutanten zu stoppen, ist es, die Menschen in den sozial benachteiligten Gegenden besser zu schützen.“ Man sehe in vielen Ländern, dass vor allem Menschen, die in Fabriken arbeiten, als Essensauslieferer, in Supermärkten oder als Reinigungskräfte überdurchschnittlich gefährdet seien.

Auch lägen in Großbritannien mehr Menschen mit Migrationshintergrund auf den Intensivstationen. „Aber das Risiko ist nicht die ethnische Zuordnung, sondern es sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen“, sagt Cevik mit Blick auf die vom staatlichen britischen Gesundheitsdienst erhobenen Daten. „Ethnische Minderheiten arbeiten häufiger in schlecht bezahlten Jobs und leben in beengten Haushalten.“

Das ist auch in Deutschland so: Auch Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten überdurchschnittlich häufig in schlecht bezahlten, aber als systemrelevant geltenden Jobs, die oft nicht im Home-Office möglich sind – etwa in der Pflege, Reinigung oder im Einzelhandel.

Migrationshintergrund unerheblich

Ob in Deutschland mehr Menschen mit Migrationshintergrund auf den Intensivstationen liegen, ist allerdings unbekannt, ist nur insoweit erheblich, als sie zu den ausgebeuteten Gruppen gehören. Auch das wissen die Landesgesundheitsministerien nicht, und die Krankenhäuser selbst führen dazu keine Statistik, wie eine Umfrage von NDR, WDR und SZ unter den mehr als 30 Unikliniken ergab. Die „Bild“-Zeitung zitierte dazu RKI-Präsident Lothar Wieler aus einem nicht-öffentlichen Gespräch. Dabei soll er gesagt haben, dass Muslime einen Anteil von 4,8 Prozent an der Bevölkerung hätten, auf den Intensivstationen betrage ihr Anteil aber 50 Prozent. Sollte diese Aussage stimmen, wäre sie eine verantwortungslose Stigmatisierung einer Bevölkerungsgruppe.

Auf Anfrage dazu lässt Wieler mitteilen, die Aussage sei „aus dem Zusammenhang gerissen“ und habe sich auf Schilderungen aus drei Intensivstationen bezogen. Generell lägen dem RKI „keine Informationen zu einem etwaigen Migrationshintergrund“ der Infizierten vor. Allerdings gebe es mehrere Studien über den sozialen Hintergrund von Infizierten, bei denen erste Ergebnisse im April vorgestellt werden sollen, teilte eine RKI-Sprecherin mit.

 Armut ist entscheidend

In Deutschland verfügen somit nur zwei Länder über Daten zum sozioökonomischen Hintergrund von Corona-Infizierten: Berlin und Bremen. „Gerade in Stadtteilen mit hoher Wohnraumdichte, niedrigem Durchschnittseinkommen und höheren Armutsquoten haben wir höhere Neuinfektionsquoten gehabt“, sagt der Sprecher der Bremer Gesundheitssenatorin. Ähnlich der Befund in Berlin:

Hier sind Arbeitslosigkeit, niedriges Haushaltseinkommen, enge Wohnverhältnisse, einfache Wohnlage und aufgezwungene unzureichende Hygiene die Faktoren, die das Risiko einer Infektion steigen lassen.

 

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