Zuwanderungsgesetz
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum „Zuwanderungsgesetz“ der damaligen rot-grünen Koalition von 2001 ist ein Zeitdokument und ein Lehrbeispiel für kompromisslose und ideologisch begründete Machtpolitik der damaligen Opposition. Unabhängig von der bereits damals bestehenden Notwendigkeit einer gesteuerten Einwanderung war sich das BVerfG schon damals nicht zu schade, eine parteipolitische Position zu stützen. Mit dieser verhinderten Zuwanderungsteuerung wäre gleichzeitig das Asylrecht nicht nur unbeschadet geblieben, sondern sogar gestärkt worden. Die folgenden Auszüge des Gerichtsurteils, insbesondere der Wortbeitrag von Jörg Schönbohm, sprechen für sich..
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
Verkündet
am 18. Dezember 2002
Im Namen des Volkes
In dem Normenkontrollverfahren
dass das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 2002 (BGBl I S. 1946) wegen seiner förmlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nichtig ist,
Antragsteller:
>Landesregierung des Saarlandes, vertreten durch den Ministerpräsidenten,
Saarländische Staatskanzlei, Am Ludwigsplatz 14, 66117 Saarbrücken,
>Landesregierung von Baden-Württemberg, vertreten durch den Ministerpräsidenten,
Staatsministerium, Richard-Wagner-Straße 15, 70184 Stuttgart,
>Staatsregierung des Freistaates Bayern, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Bayerische Staatskanzlei, Franz-Josef-Strauß-Ring 1, 80539 München, Hessische Landesregierung, vertreten durch den Ministerpräsidenten,
>Hessische Staatskanzlei, Bierstadter Straße 2, 65189 Wiesbaden, Staatsregierung des Freistaates Sachsen, vertreten durch den Staatsminister der Justiz,
Hospitalstraße 7, 01095 Dresden,
>Landesregierung des Freistaates Thüringen, vertreten durch den Justizminister, Thüringer Ministerium der Justiz, Werner-Seelenbinder-Straße 5, 99096 Erfurt
Bevollmächtigte: Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee,
Meckenheimer Allee 150, 53115 Bonn, Prof. Dr. Christian Starck,
Schlegelweg 10, 37075 Göttingen >hat das Bundesverfassungsgericht – Zweiter Senat – unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter Vizepräsident Hassemer,
Sommer,
Jentsch,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff
auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2002 durch Urteil für Recht erkannt:
Das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 2002 (Bundesgesetzblatt I Seite 1946) ist mit Artikel 78 des Grundgesetzes unvereinbar und daher nichtig. Die Antragsteller (Red.: CDU geführte Bundesländer) wenden sich mit ihrem Normenkontrollantrag gegen das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 20. Juni 2002 – Zuwanderungsgesetz – (BGBl I S. 1946).
1. Das Zuwanderungsgesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland und soll zugleich humanitäre Verpflichtungen der Bundesrepublik erfüllen (vgl. § 1 Abs. 1 Zuwanderungsgesetz). Es regelt die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Förderung der Integration von Ausländern. Ferner enthält es Bestimmungen über die Beendigung des Aufenthalts, die Haftung von Beförderungsunternehmern und Verfahrensvorschriften.
2.a) Der Deutsche Bundestag nahm auf seiner 222. Sitzung am 1. März 2002 den von der Bundesregierung sowie von der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf des Zuwanderungsgesetzes (BRDrucks 921/01, BTDrucks 14/7387) auf der Grundlage der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (BTDrucks 14/8395; 14/8414) an. Der Gesetzesbeschluss wurde am selben Tag dem Bundesrat zur Zustimmung zugeleitet (BRDrucks 157/02 <Beschluss>).
2.b1) Der Bundesrat behandelte das Zuwanderungsgesetz auf seiner 774. Sitzung am 22. März 2002. Die Beratungen zu dem Gesetz begannen unter dem Tagesordnungspunkt 8 nach Aufruf durch den amtierenden Bundesratspräsidenten, den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht S. 131 D).
2.b 2) In der Plenardebatte zu diesem Tagesordnungspunkt äußerten sich die meisten Rednerinnen und Redner nicht nur zu Bedeutung und Inhalt des Zuwanderungsgesetzes, sondern auch zu der bevorstehenden Abstimmung und zu den in diesem Zusammenhang bestehenden Meinungsverschiedenheiten. Der Bundesratspräsident erteilte nacheinander dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, Heide Simonis, dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller, und dem Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, das Wort. Weitere ausdrückliche Bezugnahmen auf die bevorstehende Abstimmung enthielten die sich anschließenden Reden der Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Roland Koch, und des Landes Niedersachsen, Sigmar Gabriel (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 131 D – 146 C).
Es folgte die Rede des brandenburgischen Innenministers, Jörg Schönbohm. Ein Abschnitt der Rede, der der bevorstehenden Abstimmung im Bundesrat gewidmet ist, lautet wörtlich:
Vor dem Hintergrund des soeben Gesagten möchte ich Sie darüber informieren, dass ich bei diesem Gesetz mit Nein stimmen werde. Nach unserem Koalitionsvertrag müssten wir uns der Stimme enthalten. Die Zustimmung zu diesem Gesetz stellte den Bruch unseres Koalitionsvertrages dar. Mit meinem Nein möchte ich diesen Bruch heilen.
Ministerpräsident Stolpe und ich sind in einer persönlich außerordentlich schwierigen Situation. Wir haben uns bisher trotz unterschiedlicher persönlicher Biographie zusammengefunden, um gemeinsam etwas für unser Land Brandenburg, dem wir uns verpflichtet fühlen, zu tun. Wir wollen in unserem Land die innere Einheit vollenden. Es wäre in Brandenburg niemandem zu vermitteln, wenn die Koalition daran zerbräche. Wir haben in meinem Heimatland eine Arbeitslosigkeit von 18,7 %. 2 % Ausländer leben unter uns. Wir haben keine Schwierigkeiten bei dem Thema „Integration“, was wichtiger Bestandteil des Gesetzes ist. Trotzdem läuft die strategische Zielrichtung darauf hinaus, Brandenburg vorzuführen und zu spalten; denn die unterschiedlichen Auffassungen waren bekannt.
Zunächst hat die Strategie der Bundesregierung Herrn Stolpe mit der Aufforderung, der Erwartung oder der Vermutung, unseren Koalitionsvertrag zu brechen, in eine schwierige Situation gebracht. Sollte er dieses tun, werde ich die rechtlichen Möglichkeiten nutzen, um die Folgen zu heilen. Auch das ist für mich menschlich eine außerordentlich schwierige Situation. Das Vorgehen der Bundesregierung, ihr Zeitplan und ihre mangelnde Bereitschaft, den Vermittlungsausschuss anzurufen, lassen mir keine andere Wahl. Ich hätte ein gemeinsames Ergebnis im Vermittlungsausschuss vorgezogen. Aber dazu waren Sie, die SPD-geführten Länder und die Bundesregierung, nicht bereit. Diese mangelnde Verhandlungsbereitschaft führt zu der Situation, in der wir uns heute befinden. ch weiß, dass mein Vorgehen bisher einmalig ist. Aber mit dem Versuch, Mehrheiten zu erzwingen, fordert die Bundesregierung eine solche Reaktion heraus. Herr Bundesminister Schily, wir haben auch einige persönliche Gespräche geführt. Ich habe in der Innenministerkonferenz häufig mit Ihnen gesprochen. Warum ist es nicht möglich, diesen letzten Schritt hin zu einem Kompromiss zu tun? Ich habe dafür eine Erklärung, zu der ich nicht viel sagen möchte. Staatspolitisch gesehen haben Sie damit die Chance verpasst, ein für die Zukunft unseres Volkes wichtiges Gesetz im breiten politischen Konsens zu verabschieden. Die Mitglieder des Bundesrates entscheiden in eigener Verantwortung. Die Mitglieder des Bundesrates werden Ihnen für Ihr Vorgehen die Mehrheit nicht geben.
Herr Präsident, ich beschreibe meine Position deswegen so eindeutig, damit Sie nachher beim Aufrufen des Landes Brandenburg nicht überrascht sind. Ich werde meine Ablehnung des Gesetzes in Kenntnis von Artikel 51 Abs. 3 unseres Grundgesetzes sowie der sich daraus ergebenden Gesetze und Verordnungen, wie sie im „Handbuch des Bundesrates“ von Reuter beschrieben sind, laut und unzweideutig formulieren. Ersparen Sie es uns bitte, durch Nachfragen noch einmal ein anderes Stimmverhalten zu erwarten oder anzumahnen. Die erste Aussage wird klar und unmissverständlich sein. […]“ (Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 147 D (148 D, Hervorhebungen im Original).
Meine Damen und Herren, ich kann nicht anders entscheiden, als ich es hier dargestellt habe. Meine Verantwortung gegenüber unserem Vaterland gebietet mir das. Ich möchte schließen mit dem Bekenntnis von General von der Marwitz, einem Zeitgenossen Friedrichs des Großen, der gesagt hat: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam keine Ehre brachte.“ Vielen Dank.“ (Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 149 A).
Der Spiegel, 2004
Viel ist von den ehrgeizigen rot-grünen Plänen nicht geblieben. Einst wollte Innenminister Otto Schily das modernste Zuwanderungsrecht Europas schaffen. Das war im Jahr 2001, als alle noch guter Dinge waren, man könnte das verworrene Ausländerrecht entschlacken, klare Regeln für die Zuwanderung schaffen und die lange vernachlässigte Integration von Ausländern angehen.
Im Laufe der Jahre ist von dem anspruchsvollen Ansatz nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Der Union gelang es, immer mehr Kernstücke aus dem Gesetzentwurf heraus- und eigene Positionen hineinzuverhandeln. Bei der Arbeitsmigration gaben SPD und Grüne die für Spitzenkräfte vorgesehene Zuwanderung nach einem Punktesystem auf. Hinzu kam, dass der islamistische Terror die Stimmung gegen Einwanderung drehte, auch wenn Wirtschaft und Gewerkschaften sie noch so für nötig hielten. Seit den Terroranschlägen vom 11. März 2004 in Madrid dominieren Sicherheitsfragen die Verhandlungen zwischen Koalition und Opposition.
Kommentar
Letztlich sind die Gespräche ohne Ergebnis geblieben. Schon damals hat die Union nicht nur das Bundesverfassungsgericht zur Hilfe gebeten, es hat auch Fundamentaloppostion praktiziert. Man kann sich sehr gut vorstellen, was uns allen erspart worden wäre, wäre dieses Gesetz nicht am ideologischen Widerstand der CDU/CSU gescheitert. Es ist dieselbe CDU mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im Jahr 2015 die Öffnung der Grenzen für alle Flüchtlinge im Handstreich ohne Einschränkungen durchsetzte. „Wir schaffen das“, sagte sie auf einer Pressekonferenz im August 2015. Wer war wir und was schaffen wir? Sich selbst hat die Bundeskanzlerin eher nicht gemeint, weil sie insgesamt wenig geschafft hat.
Sie hat es nicht geschafft, aber sie hat die spontane und unumkehrbare Grenzöffnung für alle Flüchtlinge ohne jedwede Steuerung zu verantworten. Aber sie hat es geschafft, die AfD, die zu der damaligen Zeit bedeutungslos war, zu ungeahnter Stärke zu verhelfen.
Rolf Aschenbeck