Enteignungen

Die Mehrheit der Berliner hat mit einem Volksentscheid dafür gestimmt, die großen privaten Wohnungsbauunternehmen (Vonovia, Deutsche Wohnen) zu enteignen. Die politischen Entscheider sind jedoch überwiegend dagegen. Lesen Sie den redaktionell geänderten Gastbeitrag von Prof. Volker Boehme-Neßler, ZeitOnline entnommen.

Das Grundgesetz schließt die direkte Demokratie (natürlich) nicht aus. Ihm ist aber die repräsentative Demokratie lieber. Im Zentrum seiner Demokratievorstellung steht das gewählte Parlament als die zentrale Entscheidungsinstanz. Die Skepsis gegenüber der direkten Demokratie hat vor allem historische Gründe. Als der parlamentarische Rat 1948/1949 die Verfassung entwickelte, war die Erinnerung an die Nazidiktatur noch frisch. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten aus eigener Anschauung, wie leicht ein Volk zu verführen ist – und wie furchtbar Entscheidungen sein können, die das Volk direkt trifft. Um es klar zu sagen: Nach Ansicht des Parlamentarischen Rates hatte das deutsche Volk nicht die politische Reife, die in einer direkten Demokratie für gute Entscheidungen nötig ist. Das ist heute sicher anders. Nicht zuletzt deshalb gibt es immer wieder Initiativen, mehr plebiszitäre Elemente in die Verfassung einzuführen.

Manche Landesverfassungen hatten von vornherein ein entspannteres Verhältnis zur direkten Demokratie. Besonders weit geht dabei die Landesverfassung von Bayern. Aber auch die Berliner Landesverfassung kennt Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide. Mit diesen Instrumenten können die Wählerinnen und Wähler direkt Einfluss auf das Berliner Abgeordnetenhaus nehmen. In den vergangenen Jahrzehnten gab es in Berlin einige Volksbegehren und Volksentscheide – für die in der Landesverfassung jedoch hohe Hürden gesetzt sind. Ein Volksentscheid etwa hat nur dann Erfolg, wenn eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zustimmt und das gleichzeitig mindestens ein Viertel der in Berlin Wahlberechtigten ist. Daran sind nicht wenige politische Initiativen gescheitert.

Am Sonntag war der Volksentscheid der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen erfolgreich. Dabei geht es um die Enteignung von Wohnungsbeständen großer Wohnungsunternehmen. Insgesamt sind nach Schätzung des Senats knapp 250.000 Wohnungen davon betroffen. Der Volksentscheid fordert den Senat auf, „alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien in Gemeineigentum erforderlich sind“. Aber welche rechtlichen Folgen hat der Volksentscheid? Muss Berlin jetzt die Wohnungsunternehmen enteignen?

Entscheidung der Mehrheit rechtlich verbindlich

Manche Landesverfassungen kennen auch Referenden, die keine zwingenden rechtlichen Wirkungen haben. Sie sind letztlich eine Empfehlung oder ein Vorschlag des Volkes an die Regierung. Das ist in Berlin anders. Der Volksentscheid hat zwingende rechtliche Folgen. Was die Bürgerinnen und Bürger mit Mehrheit entschieden haben, gilt. Gibt es jetzt also in Berlin ein Enteignungsgesetz, das vom Volk verabschiedet wurde?

Ein genauer Blick zeigt, dass die Lage komplizierter ist. Denn der Inhalt des Referendums ist kein konkreter Gesetzesentwurf, sondern eine Aufforderung an den Senat, alle Maßnahmen zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen zu ergreifen. Gleichzeitig verbindet die Initiative das mit inhaltlichen Eckpunkten für die Enteignungen.

Diese Aufforderung ist rechtlich verbindlich. Der neue Senat darf sie nicht ignorieren. Er muss sich mit ihr auseinandersetzen. Nach den Vorstellungen der Initiative steht am Ende ein entsprechender Gesetzesentwurf, über den dann das Berliner Abgeordnetenhaus entscheidet.

Grenzen des Privateigentums im Grundgesetz

Das Grundgesetz ist der Rahmen und die Grenze für die Politik. Das gilt auch für Volksentscheide. Die Mehrheit für ein Referendum mag noch so hoch sein, wenn es inhaltlich gegen die Verfassung verstößt, kann sein Inhalt nicht verwirklicht werden. Die Schlüsselfrage lautet also: Sind die von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger angestrebten Enteignungen überhaupt mit der Verfassung vereinbar?

Die Verfassung schützt das private Eigentum als Grundrecht. Privateigentum prägt die Gesellschaft und die Wirtschaft. Ohne Privateigentum wären marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnungen kaum denkbar. Wie immer ist das Grundgesetz allerdings nicht einseitig. Eigentum verpflichtet, heißt es in der Verfassung ganz prägnant. Die Verfassung sieht also, welche Auswirkungen privates Eigentum auf das Allgemeinwohl und soziale Strukturen haben kann. Grenzenloses Privateigentum akzeptiert das Grundgesetz nicht. Es erlaubt sogar ausdrücklich Enteignungen.

Enteignungen nach dem Grundgesetz sind allerdings an Bedingungen geknüpft. Die zwei wichtigsten sind: Eine Enteignung ist nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig. Und sie darf nur gegen eine angemessene Entschädigung erfolgen.

Bundesverfassungsgericht wird wohl entscheiden

Wohl der Allgemeinheit – was ist das? Das ist ein Rechtsbegriff, der aber offen ist und mit politischen Inhalten gefüllt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hält sich dabei zurück. Es lässt den politischen Instanzen einen großen Spielraum bei der Frage nach dem Wohl der Allgemeinheit. Dient die Enteignung großer Wohnungsunternehmen in Berlin also dem Wohl der Allgemeinheit? Das entscheidet zunächst das Berliner Parlament mit einem Gesetz. Ob das dann den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht, muss mit großer Wahrscheinlichkeit am Ende das Bundesverfassungsgericht beurteilen.

Wann ist eine Entschädigung angemessen? Auch hier lässt die Verfassung durch die offene Formulierung Spielräume für eine politische Definition. Ob die politisch festgelegte Summe im Ergebnis dann der Verfassung entspricht? Das werden am Ende auch die Richter in Karlsruhe beurteilen müssen. Eines ist allerdings klar: Eine Entschädigung, die deutlich unter dem Verkehrswert der enteigneten Wohnungen liegt, wäre nicht angemessen, sondern verfassungswidrig.

Ein Referendum ist eine Herausforderung für die parlamentarische Demokratie. Die Berliner Landespolitik hat vor einigen Jahren ein erfolgreiches Referendum einfach ignoriert. Die Mehrheit der Bürger hatte dafür votiert, den Flughafen Tegel offen zu halten. Aus rechtlichen Gründen war das schwierig. Aber den direkt geäußerten politischen Willen des Volkes ignorieren, wie es der Berliner Senat getan hat? Das führt zu Vertrauensverlust und Politikverdrossenheit in der Bevölkerung.

Die Wohnungsenteignungen in Berlin sind politisch umstritten und verfassungsrechtlich brisant. Insoweit lässt sich der Inhalt des erfolgreichen Referendums kaum unverändert in praktische Politik umsetzen. Aber bei einer so wichtigen Frage geht es politisch nicht, die Entscheidung des Volkes zu ignorieren. Das wäre – vorsichtig formuliert – eine Irreführung der Bürgerinnen und Bürger mit schlimmen Folgen. Das Vertrauen in Staat und Politik würde weiter abnehmen. Die neue Berliner Regierung muss den Regelungen des Grungesetzes mit seinen Entscheidungen entsprechen.