Meinungsdiktatur

Kriegsbegeisterung und Straßenumbenennungen: Der Orwell’sche Klassiker dockt plötzlich an manchen Stellen im deutschen Alltag an. So beginnt Matthias Iken, stellv. Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, seinen Artikel über Minderheiten mit totalitären Ansätzen, die keine anderen Meinungen dulden.

Hamburg. 1948, vor 75 Jahren, schrieb George Orwell einen großen Roman. Der britische Autor verpackte seine Warnung vor Faschismus und Stalinismus in eine düstere Erzählung namens „1984“. Aufgrund des Zahlendrehers im Titel machte der Roman Anfang der 80er schon einmal Karriere. Ich habe ihn nun nach 1984 wieder gelesen, er wirkte seltsam aktuell.

Natürlich leben wir nicht in einem totalitären Staat, der uns schikaniert und kontrolliert, sondern in einer Demokratie. Aber manche nehmen sich die Freiheit, totalitär zu denken. Wir haben keinen Großen Bruder, aber immer mehr kleine woke Geschwister. Eine selbstgewisse Avant­garde gibt die Richtung vor, ein überwunden geglaubtes Freund-Feind-Denken greift Raum. Ist es politischer Überdruss, aktivistischer Übermut oder intellektuelle Unterbelichtung – plötzlich begegnen uns Stellen aus Orwells Roman im Alltag.

Umbenennung der Sedanstraße: Trägt das Tilgen eines Namens zur Debatte bei?

In der vergangenen Woche musste ich an Winston Smith denken, den Protagonisten aus 1984. Sein Job im „Ministerium für Wahrheit“ ist die Geschichtsklitterung – er muss die Vergangenheit an die sich wandelnden Interessen der Partei anpassen. Historische Wahrheiten gibt es nicht mehr, sie werden zu puren Weltanschauungsfragen. Unbequeme Fakten, störende Köpfe, ketzerische Ideen müssen verschwinden, der Zeitgeist regiert über die Zeitläufte. Eine Idee, die auch in Hamburg auf fruchtbaren wie furchtbaren Boden fällt.

Allen Ernstes schlagen Grüne und Linke vor, die Sedanstraße umzubenennen, um die „Machtpolitik, für die das Sedan-Gedenken steht“, zu überwinden. Nun ist die Auseinandersetzung mit Militarismus zweifellos geboten – aber trägt das Tilgen eines Namens zur Debatte bei? Wo fängt das an? Und wo hört es auf, wenn es jemals aufhört? Was ist mit der benachbarten „Bellealliancestraße“, benannt nach Napoleons Hauptquartier, oder dem Waterloohain?

Manche würden am liebsten auch Bismarck aus der Öffentlichkeit verbannen

Ausgerechnet Historiker erfasst ein Furor, die Vergangenheit zu säubern. Der Emily-Ruete-Platz ist schon Geschichte, weil sich die emanzipierte Tochter des Sultans von Sansibar 1888 rassistisch geäußert hat. Geht gar nicht, befanden in politischer Eintracht und historischer Einfalt CDU, SPD, Grüne und Linkspartei im Bezirk Nord. „Nichts ist gewöhnlicher als Historiker, die über wehrlose Menschen früherer Zeiten zu Gericht sitzen und dabei Werte ihrer eigenen Gegenwart als Maßstab gebrauchen“, sagte Norbert Elias. Aber wer liest schon den jüdischen Soziologen?

Am liebsten würden manche auch Bismarck aus der Öffentlichkeit verbannen oder ihn zumindest „neu denken“ – wegen „seiner Rolle in der europäischen Kolonialpolitik und bei der Verfolgung von Sozialist/-innen, Homosexuellen etc“. Wer so etwas verfasst? Die Stiftung Hamburgischer Museen und die Behörde für Kultur und Medien. Da frage ich mich: Richtete sich Bismarcks Kulturkampf zwischen 1871 und 1887 gegen die katholische Kirche oder gegen eine nicht vorhandene LGBTQ+-Bewegung?

Wenn unsere Baukastenhistoriker und Geschichtsbegradiger so weitermachen, werden wir am Ende noch unser braunes Wunder erleben: Der leidenschaftliche Zigarrenraucher Churchill leerte angeblich täglich eine Flasche Whisky und drei Flaschen Champagner. Adolf Hitler war Nichtraucher, Vegetarier und trank so gut wie keinen Alkohol. Muss deshalb die Geschichte neu geschrieben werden?

Ausgerechnet die Grünen zelebrieren ihre Liebe zum Kampfpanzer Leo

Eine Erfindung aus „1984“ ist auch das Neusprech, eine Kunstsprache von oben, die Bürger/-innen zum richtigen Denken erziehen soll. Wie komme ich da jetzt nur drauf? Der Orwell’sche Staat verfolgt auch ein klares Feindbild und führt Krieg gegen Eurasien. Denn „Krieg ist Frieden“. Das klingt wie der Satz „Waffen retten Leben“. Ausgerechnet viele Deutsche hat nach dem Überfall auf die Ukraine eine Kriegsbegeisterung gepackt – allen voran die Grünen. Sie zelebrieren ihre Liebe zum Kampfpanzer Leo, teilen auf Twitter Raubkatzen-Emojis, die Verteidigungspolitikerin Sara Nanni trägt im Bundestag demonstrativ Pulli mit Leoparden-Muster. Und Außenministerin Annalena Baerbock scherzt in ihrer Karnevalsrede, dass sie gerne im Leo-Kostüm gekommen wäre. Hahaha.

Natürlich sind wir weit von 1984 entfernt – und doch: Noch vor zehn Jahren waren Neusprech, Geschichtsbeugung und Kriegslyrik hierzulande nur Dystopie. Und heute? Marschieren wir in eine seltsame Richtung.

Anmerkungen

Der von Matthias Iken benannte Zeitgeist, der von einer eltären Minderheit bestimmt wird, führt zur Meinungsdiktatur ohne Berücksichtigung der Wahrheit. Wahrheit ist dann nicht mehr nur unbequem, sie ist unerwünscht mit der Folge, dass die sie vertretenden Personen ebenfalls unerwünscht sind und Diskriminierung, Ausgrenzung, Ächtung und Vernichtung die Folgen sind. Wenn unterschiedliche Meinungen und Mehrdeutigkeiten geradegebogen oder verhindert werden, wenn also die gewonnen hätten, die die Deutungshoheit am lautesten für sich beanspruchen, dann sind wir nicht nur in einer Meinungddiktatur. Der Zeitgeist wird dann kritiklos zu Lasten der Vielfalt zelebriert werden können.

Dringend benötigt wird stattdessen der kritische Blick gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, die als Minderheiten den Zeitgeist mit ihren Positionen gegen die Mehrheit dominieren wollen.

Antrag Kapitänsbinde

Ich selbst habe die Dominanz einer Minderheit erlebt, als ich für die Mitgliederversammlung der FC St.Pauli am 17.Dezember 2022 den Antrag1 gestellt hatte, die regenbogenfarbene Kapitänsbinde durch die satzungsgemäße braun-weisse Vereinsfarbe zu ersetzen. Ich kam nicht dazu, meinen Antrag zu begründen und z.B. klarzustellen, dass mit diesem Antrag niemand diskriminert wird. Wie auch. Ich bin nur rudimentär zu Wort gekommen. Stattdessen bin ich von einem monolithischen Block von rund 350 Personen, 1% der 35.000 Mitglieder, mit tatkräftiger Hilfe der Tagungsleitung lautstark und beleidigend daran gehindert worden, meine Position zu erläutern. So z.B. mit dem Hinweis auf andere Minderheiten als die LGBTQ-Minderheit wie z.B. die Schwerbehinderten, die schon seit Jahren bis hin zur existentiellen Bedrohung diskriminiert werden.

LGBTQ-Minderheit

Als ich darauf hinwies, dass ich von Nutzern der sogenannten sozialen Medien als feindliches Arschloch beschimpft worden bin, das sich verpissen soll, war die Reaktion dieser LGBTQ dominierten 350 Mitglieder Kopfnicken und lautstarke Zustimmung. Meine Frage, ob denn auch zugestimmt wird, wenn ich mich nicht verpisse und deswegen verfolgt und geschlagen werde, blieb immerhin ohne Reaktion. Die könnte aber noch kommen.

Es hat sich auf dieser Mitgliederversammlung herausgestellt, dass eine LGBTQ-Minderheit mit ihrer eigenen Meinung nicht nur die Mehrheitsmeinung dominieren will, sie will überhaupt keine andere Meinung dulden. Das ist ein totalitärer Ansatz und verfassungswidrig. Die Führung des Vereins hat sich diesem Ansatz nicht entgegengestellt, sondern ihn mit der Person der Tagungsleitung sogar aktiv gefördert.

Statt die Spieler zu instrumentalisieren, täte der Verein gut daran, sich nicht den Zeitgeist zu eigen zu machen, sondern Flagge zu zeigen gegen den sich ausbreitenden Antisemitismus und Rassismus. Antisemitismus ist eine besonders widerwärtige Abart des Rassismus. Es wäre daher notwendig, und erst dann kann man die Vereinsführung mit der bisher nur propagierten Haltung gegen Rassismus ernstnehmen, wenn statt der regenbogenfarbenen Flagge die jüdische Flagge gehisst wird.

Mein Redebeitrag wird noch gesondert in dieser Website erscheinen. Sie werden dann selbst beurteilen können, ob mein Antrag, die regenbogenfarbene  durch die braun-weisse Vereinsfarbe zu ersetzen, diskriminierend ist. Und noch etwas: Ich bin seit knapp 40 Jahren Vereinsmitglied, und ich denke nicht daran, mich zu verpissen!

 Rolf Aschenbeck

1Das Hamburger Abendblatt(HA) hat meinen Antrag „skurril“ genannt. Inzwischen wird die Redaktion wohl eine andere Bewertung haben.

 

 

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